Er beschleunigte seine Schritte. Was auch immer er dort unten vorfinden würde, es konnte unmöglich so schlimm sein wie der sichere und vermutlich langsame Tod, der ihm im Nacken saß.
Es kam ihm vor, als hätte er einen Großteil der letzten paar Tage entweder damit verbracht wegzulaufen oder zu kämpfen. Doch selbst jetzt, da seine Füße über die Steinstufen wirbelten und die über das Treppengeländer rutschende Hand wie Feuer brannte, beschäftigte sich ein Teil seines Gehirns fieberhaft mit den entscheidenden Fragen: Was war das für eine wichtige Sache, die Sherlock nach Meinung des Barons wusste und für die er sterben sollte? Was genau hatte der Baron vor, und warum stand Sherlock seinen Plänen im Wege?
Plötzlich kamen seine Beine aus dem Rhythmus und er strauchelte. Er hatte bereits den ebenen Grund des Schachtes erreicht, ohne es gemerkt zu haben. Er befand sich in einer von Gaslampen erleuchteten Halle, aus der zwei bogenförmige Tunnelöffnungen in gleicher Richtung fortführten. Die Bögen waren etwa vier bis fünf Mal so hoch wie ein erwachsener Mann und aus Ziegelsteinen gemauert. Sherlock musterte die Steine. Wohin sein Blick auch fiel, an allen Stellen war das Mauerwerk triefend nass. Und Sherlock wusste auch warum. Der Lage der Öffnungen nach zu schließen, verliefen die beiden Tunnel direkt unter der Themse hindurch und endeten vermutlich auf der Nordseite in einem ähnlichen Schacht.
Wenn er es bis zur anderen Seite schaffte, könnte er vielleicht noch einmal mit dem Leben davonkommen.
Er stolperte in den Tunnel zu seiner Linken hinein. Auch hier war alles voller Menschen. Entspannt flanierten sie umher, als wäre es die natürlichste Sache der Welt, unter einem Fluss herumzuspazieren. Sogar Pferde wurden hier in aller Seelenruhe am Halfter mitgeführt. Die Leute hatten offensichtlich keine Vorstellung von den Abertausenden Tonnen von Wasser, die sich nur ein paar Meter über ihren Köpfen befanden und nur von bröckeligem Mauerwerk und ein bisschen Putz zurückgehalten wurden.
Es gab Zeiten, in denen übermäßig logisches Denken ein Fluch war. Und dieser Moment gehörte zweifellos dazu. Sherlock hatte eine gute Vorstellung von dem gewaltigen Druck, der auf den Tunnelwänden lastete. Nur ein kleiner Riss und sie würden alle im hereinströmenden Wasser ertrinken.
Trotzdem lief er immer weiter. Schließlich hatte er keine andere Wahl.
Oder vielleicht doch? Im Laufen fiel ihm auf, dass die beiden Tunnel parallel zueinander verliefen und etwa alle zehn Meter durch kleinere Nebentunnel miteinander verbunden waren. In sämtlichen dieser Nebentunnel hatten unternehmenslustige Londoner Stände aufgebaut, an denen sie Essen, Getränke, Kleidung und allen möglichen Krimskrams verkauften. Wenn er sich einfach durch einen dieser Tunnel davonstahl, könnte er sich in dem anderen Haupttunnel wieder zurück zum Eingangsschacht begeben, zum Lagerhaus zurückkehren und dort nach Amyus Crowe suchen.
Er hielt nach rechts auf die Tunnelwand zu und bog kurz darauf scharf in den erstbesten Seitentunnel ein, auf den er stieß. Ein Mann wandte sich ihm zu. Eine Öllampe, die an einem Nagel an seinem Bretterstand hing, warf ihr Licht auf sein bleiches Gesicht. Seine graue Haut war feucht und sah aus wie etwas, das viel zu lange unter der Erde gewesen war. Er hatte sich in eine alte Decke gehüllt, die mit der Zeit vor Dreck ganz steif geworden war und ihn wie eine bizarre Rüstung umgab. Aus Augen, die nur aus Pupillen zu bestehen schienen, starrte er Sherlock einen Moment an.
»Willste ’ne Uhr?«, fragte er hoffnungsvoll. »Erstklassige Chronometer. Gehen immer richtig. Immer genau. Tischuhren, Standuhren … Hab alles da. Was immer du willst.«
»Nein danke«, sagte Sherlock und drückte sich am Stand vorbei. Ihm kam der Gedanke in den Sinn, wie bedeutungslos doch so etwas wie Zeit hier tief unter der Themse war. Es gab weder Sonne noch Mond, weder Tag noch Nacht. Die Zeit ging einfach so dahin. Wozu brauchte man da eine Uhr?
»Wie wär’s mit ’ner schönen Taschenuhr? Wenn de ’ne Uhr hast, brauchste nie mehr nach der Zeit fragen. Mit ’ner Savonette machen junge Burschen wie du schweren Eindruck auf die Ladys. Echtes Silber. Auch mit Schmuckgravur. Und drinnen im Deckel könntest de ’n Bild von deinem Schatz aufbewahren.«
Na klar! Echtes Silber, mit Gravur. Und vermutlich Diebesgut. »Nein, danke«, erwiderte Sherlock außer Atem. »Aber mein Vater hat Geld. Der kommt in einer Minute hier vorbei. Sagen Sie ihm, dass ich eine Uhr will. Und lassen Sie ihn nicht weg, ohne dass er eine kauft.«
Das Lächeln des Standbesitzers ließ Sherlock an einen räuberischen Riesenkrebs denken, der, unter einem Stein lauernd, darauf wartete, dass ein ahnungsloses Opfer in seine Nähe kam.
Sherlock ging weiter zum anderen Ende des Seitentunnels und lugte um die Ecke. Er blickte zum Eingangsschacht zurück, durch den er gekommen war, und stieß einen Fluch aus. Seine Verfolger mussten sich getrennt haben. Einer war ihm in den linken Tunnel gefolgt, doch der andere hatte den rechten genommen und kam jetzt auf ihn zu. Der Mann schob sich durch die Menge und musterte argwöhnisch jeden Mann, der jünger als zwanzig zu sein schien, um ganz sicherzugehen. Offensichtlich kannten sich seine Verfolger besser in der Gegend aus als er.
Sherlock entschloss sich abzuwarten, bis der Mann am Tunneleingang vorbeigegangen wäre. Dann würde er einfach wieder zurückgehen. Aber sein Plan wurde durch einen Tumult zunichte gemacht, der sich plötzlich hinter ihm erhob. Er drehte sich um und sah, wie der Standbesitzer dem Schurksen, der Sherlock durch den linken Tunnel gefolgt war, eine kleine Reiseuhr in die Hand zu drücken versuchte. Es war der glatzköpfige Mann mit den Blumenkohlohren und der zerquetschten Nase. Laut fluchend stieß der Schlägertyp ihn weg. Aber der Standbesitzer kam zurückgetippelt und sah unter seinem harten Deckenpanzer nun mehr und mehr aus wie irgendein Krustentier, das am Grunde des Meeres lebte.
Wieder versuchte er, dem Glatzkopf die Uhr in die Hand zu drücken. »Für Ihren Sohn! Für Ihren Sohn!«, kreischte er dabei aus vollem Hals. Der Ex-Boxer versetzte ihm wieder einen Stoß. Diesmal einen härteren. Der Standbesitzer strauchelte, kam gegen die Öllampe und schmetterte sie dabei gegen die Wand. Das Glas zersplitterte, und das Öl ergoss sich über die schmutzverkrustete Decke des Standbesitzers. Der noch brennende Docht fiel ebenfalls auf die Decke und setzte sie in Brand.
Rasch breiteten sich die Flammen aus, während der Standbesitzer eine Schrecksekunde lang einfach nur wie gelähmt auf der Stelle stand. Doch gleich darauf flitzte er, wild mit den Armen um sich schlagend, in den linken Haupttunnel hinaus. Panisch wichen die Leute vor ihm zurück. Dennoch stieß er mit einem Passanten zusammen, und augenblicklich sprang das Feuer auf dessen Gehrock über. Der Mann sprang zur Seite und schlug hastig mit der Hand auf die Flammen ein. Aber der einzige Erfolg bestand darin, dass er den ausladenden Reifrock einer Frau neben ihm in Brand setzte. Ein Pferd, das gerade am Halfter durch den Tunnel geführt wurde, ging beim Anblick der Flammen durch und schleifte seinen Besitzer hinter sich her.
Innerhalb kürzester Zeit verwandelte sich der Tunnel in ein Flammeninferno. In Windeseile fingen zunächst Kleidungsstücke Feuer, dann folgten die Stoffabdeckungen der Stände, bis diese – trotz ihres feuchten Holzes – selbst in Flammen aufgingen. Rauch und Dampf vermischten sich im Tunnel zu einem erstickenden Nebel. Entsetzt floh Sherlock vor Feuer und Rauch in den rechten Tunnel, der zum Glück noch frei von Flammen war.