In dem jedoch auch noch einer seiner Verfolger steckte.
Eine haarige Hand packte ihn an der Schulter.
»Hab ich dich, du Drecksack«, fauchte der Mann. Seine Jackenärmel waren so schwarz vor alten Schweißflecken, dass sie ganz steif und wachsig geworden waren. Der Gestank, den die Kleidung des Mannes verströmte, war unbeschreiblich.
Sherlock zappelte und wand sich unter seinem Griff. Aber es war sinnlos. Seine Finger bohrten sich hart in Sherlocks Schulter.
»Denny wird ’n Wörtchen mit dir reden wollen«, flüsterte der Mann und brachte sein Gesicht dicht vor Sherlocks. Sein Atem stank, als würde in seinem Mund eine Leiche verwesen. »Und ich glaub nich, dass dir sehr gefallen wird, was er zu sagen hat.«
Sherlock wollte gerade antworten, als er etwas auf dem Boden des Seitentunnels wahrnahm. Der von Rauch und Dampf verschleierte Grund schien sich plötzlich zu heben und dann wellenförmig auf und ab zu bewegen, als wäre er ein lebendiges Wesen. Gleich darauf erkannte er, dass er damit auch gar nicht so falsch lag. Allerdings handelte es sich nicht um ein Wesen, sondern um Tausende … Tausende von Ratten! In panischer Angst vor dem Feuer waren sie aus ihren Löchern und Schlupfwinkeln geflitzt und allesamt in eine Richtung gestürmt: weg vom Feuer. Ein lebender Teppich aus struppigem braunem und schwarzem Fell ergoss sich über den Tunnelboden. Menschen und Pferde wichen entsetzt vor der Masse aus Haaren, Zähnen und Schwänzen zurück. Ein kleines Mädchen, das von seinen Eltern fortgezogen wurde, verlor den Halt und fiel hin. Im nächsten Augenblick waren auch schon Gesicht und Körper von einem Schwarm von Ratten bedeckt.
Der Mann, der Sherlocks Schulter gepackt hielt, lockerte seinen Griff, als die Tiere um seine Knöchel wuselten und ihn mit ihren winzigen Zähnen bissen. Fluchend schlug er mit einer seiner schaufelartigen Hände auf sie ein. Sherlock riss sich aus seinem Griff los, stürzte sich in die lebende Masse und griff nach dem Kind, das unter der wogenden Flut verschwunden war. Winzige Krallen trippelten ihm über Arme, Beine, Kopf und Rücken.
Ein widerlicher, beißender Gestank wie nach altem Urin drang ihm in die Nase. Seine Finger schlossen sich um einen kleinen Arm, und Sherlock zog aus Leibeskräften. Mit weit aufgerissenen Augen und den Mund schon zum Schreien geöffnet tauchte das Mädchen aus dem Rattenberg auf. »Du bist in Sicherheit«, beruhigte Sherlock sie. Er schob sie zurück in die Arme ihrer Eltern. Dankbar rissen sie das Mädchen an sich und umarmten es.
Und dann war die Rattenflutwelle über sie hinweggezogen, mit Ausnahme von ein paar kranken und lahmen Nachzüglern. Sherlock konnte sehen, wie die Tiere in beide Tunnelrichtungen vor dem Rauch davonflitzten, der weiterhin aus dem Seitentunnel quoll. Der Schlägertyp, der Sherlock geschnappt hatte, klopfte sich immer noch verzweifelt die Kleidung ab, und unter dem Kleidungsstoff konnte Sherlock mehrere hin- und herhuschende Ausbeulungen erkennen. Wie es aussah, waren ein paar der um ihr Leben rennenden Tiere von unten in die Hosenbeine geflitzt und in ihrer Panik dann aus dieser Falle nicht mehr herausgekommen. Sherlock wandte sich ab und wollte gerade schon in Richtung des südlichen Flussufers zurücklaufen, als ihm die beiden anderen Schläger einfielen. Höchstwahrscheinlich würden sie oben am Schachteingang auf ihn warten. Nein, seine beste Chance bestand darin, die entgegengesetzte Richtung einzuschlagen, und so rannte er den Tunnel hinunter auf das Nordufer der Themse zu. Schließlich gab es ja Brücken und Fährleute, um wieder ans andere Ufer zu kommen. Er würde schon zurückfinden. Irgendwann jedenfalls.
Sherlock hastete durch den Tunnel und entfernte sich immer weiter vom Feuer. Männer in bunt zusammengewürfelten Uniformen kamen mit Wassereimern an ihm vorbeigerannt: offenbar eine freiwillige Feuerwehrtruppe, die für die Sicherheit im Tunnel zuständig war. Er achtete nicht weiter auf sie und rannte weiter.
Schließlich erreichte er das Nordufer der Themse.
Der dortige Schacht samt seiner in Spiralen nach oben führenden Treppenstiege war das exakte Spiegelbild seines Pendants auf der anderen Flussseite. Fast am Ende seiner Kräfte stapfte er auf den Steinstufen nach oben, und auf jeder Galerieebene musste er erst einmal anhalten, um zu verschnaufen.
Aus der Dunkelheit in das Licht der Nachmittagssonne zu treten war dann, als wäre er aus der Hölle ins Paradies entkommen. Die Luft roch süß, und die leichte Brise war angenehm kühl auf der Haut.
Er blieb einen Augenblick stehen und schloss die Augen, um das Gefühl in vollen Zügen zu genießen. So einfach und doch so perfekt.
Die Gegend am nördlichen Tunneleingang schien etwas besser zu sein als die Südseite. An den Kais lagen dicht aneinandergedrängt Schiffe aller Größen, und auf den Gangways schleppten Heerscharen von vierschrötigen Hafenarbeitern emsig Güter zwischen Schiffen und Kaianlagen hin und her. Sherlock ging am Ufer der Themse an den Schiffen vorbei und hielt nach einer Brücke Ausschau, auf der er wieder auf das andere Ufer hinüberkäme. Er wusste, dass mehrere Brücken über die Themse führten. Er hatte nur keine Ahnung, ob sich diese in der Nähe von Rotherhithe und dem Tunnel befanden. Aber logischerweise musste er irgendwann auf eine stoßen, wenn er lange genug weiterging. Vorausgesetzt natürlich, er ging in die richtige Richtung, sprich auf das Stadtzentrum zu. Allerdings hatte er daran kaum einen Zweifel. Denn wenn der Tunnel sich in Ostlondon befand, was ja der Fall war, und er diesen von Süd nach Nord durchquert hatte, was ebenfalls der Fall war, und er sich dann aus dem Tunnel kommend nach links wandte, müsste er zwangsläufig in die richtige Richtung gehen. Das Sarbonnier Hotel, in dem Amyus Crowe ihre Zimmer reserviert hatte, lag fast direkt am Themseufer und noch dazu am nördlichen. Wenn er also weit genug lief, würde er es vermutlich auch finden. Viel lieber jedoch wollte er eigentlich wieder über die Themse zurück, um Amyus Crowe und Matty Arnatt ausfindig zu machen.
Etwa eine halbe Stunde später stieß er tatsächlich auf eine Brücke: ein riesiges Gebilde mit Zwillingstürmen aus grauem Stein auf beiden Ufern und einer gepflasterten Fahrbahn, die auf beiden Seiten von zahlreichen Läden und Ständen gesäumt war. Müde schleppte er sich über die Brücke und ignorierte das Geschrei der verschiedenen Händler, die ihm, von einem ganzen Ochsen bis hin zu einer geladenen Pistole, alles Mögliche zu verkaufen versuchten. London kam ihm immer mehr als Ort der unbeschränkten Möglichkeiten vor. Vorausgesetzt man war bereit, dafür zu zahlen.
Am Südende der Brücke angekommen, wandte er sich wieder nach links. Er ging weiter auf Straßen, Gassen und Wegen und setzte seinen Weg sogar ein paarmal oben auf der breiten Krone der Ufermauer fort, um ja die richtige Richtung zum Lagerhaus in Rotherhithe nicht zu verlieren, wo er Amyus Crowe und Matty zuletzt gesehen hatte. Links von ihm am Themseufer bildeten die zahlreichen in den Himmel ragenden Schiffsmasten einen dichten Wald aus schlanken Holzstämmen, und vom Fluss stieg der ewig präsente Gestank menschlicher Exkremente auf. Wenn Mycroft tagein tagaus an einem solchen Ort arbeiten musste, hatte er sich allein dafür schon einen Orden verdient, dass er das überlebte.
Ungefähr eine Meile flussabwärts von der Brücke entfernt kam Sherlock an einem Schiff vorbei, das gerade von einer Gruppe Hafenarbeiter beladen wurde. Schwitzend und fluchend versuchten sie, sperrige Holzkisten auf schrägen Gangways hinaufzubugsieren, ohne die Fracht in den Fluss fallen zu lassen. Etwas an der Größe und der Form der Kisten machte Sherlock stutzig. Im Schutz eines benachbarten Gebäudes pirschte er sich näher heran.
Ein korpulenter Mann in marineblauer Jacke stand etwas abseits auf dem Kai. Mit prüfendem Blick musterte er ein Bündel Papierblätter, das auf einem Klemmbrett fixiert war.
Mit Hilfe eines Bleistiftes, dessen Spitze er immer wieder anlecken musste, damit er funktionierte, versah er die Blätter hin und wieder mit irgendwelchen Anmerkungen.