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Der Mann musterte geringschätzig Sherlocks hagere Gestalt. »Komm in fünf Jahren wieder, Sohn«, sagte er in nicht ganz unfreundlichem Ton. »Sieh zu, dass du ein paar Muskeln auf dein dürres Gerippe kriegst.«

»Aber ich muss aus London verschwinden«, flehte Sherlock eindringlich. »Ich kann hart arbeiten. Ehrlich. Kann ich wirklich.«

Er zeigte auf das Schiff in der Nähe. »Was ist denn mit denen? Die sehen aus, als hätten se zu wenig Leute.«

»Haben sie«, bestätigte der Mann. »Heute Nachmittag sind drei zu wenig gekommen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass du für einen von denen einspringen kannst. Und außerdem: Der Kahn wird dich nicht sehr weit aus London fortbringen.«

»Warum nicht?«, fragte Sherlock.

»Der segelt nur nach Frankreich und dann gleich wieder zurück. Kein Landgang für die Crew.« Er lachte. »Wenn du dich für ’ne Weile verkrümeln möchtest, tret’ doch in die Navy ein. Oder häng hier einfach lange genug rum, bis eins ihrer Presskommandos kommt und dich fortschleppt.«

Immer noch lachend zog er davon.

»Frankreich«, sagte Sherlock fasziniert. »Interessant.«

»Wie ich höre, wollt ihr euch unserer Crew anschließen«, rief eine Stimme vom Bug des Schiffes aus. Sherlock verzog das Gesicht zu einer Grimasse und blickte in eine andere Richtung. Aber die Stimme sprach weiter: »Warum kommst du mit dem Mädchen nicht einfach an Bord? Ja, wir wissen nämlich, dass es ein Mädchen ist. Haben euch beobachtet, seit ihr hier aufgetaucht seid. Was denn? Habt ihr etwa gedacht, ihr wäret unsichtbar?«

Sherlock blickte den Kai entlang zu der Stelle, wo der Lademeister stehengeblieben war und zu ihnen zurückblickte. Sein Gesichtsausdruck war mitleidig, aber entschlossen. Von ihm war keinerlei Hilfe zu erwarten.

Sherlock glitt von der Mauer, nahm Virginias Hand und half ihr herunter. »Zeit zu gehen«, sagte er. Aber als er sich umdrehte, sah er sich unversehens einem Halbkreis von Seeleuten und Hafenarbeitern gegenüber, die wie aus dem Nichts aufgetaucht zu sein schienen.

Virginia mit sich ziehend, versuchte er wegzurennen. Aber schwere Hände packten ihn und zerrten ihn von ihr fort. Er stolperte, die Hände hielten ihn jedoch mit eisernem Griff auf den Beinen. Er sah, dass auch Virginia stolperte. Doch im nächsten Augenblick nahm er nur noch eine Hand wahr, die mit einem zusammengeknüllten Stoffballen in der Innenfläche auf ihn zugeschossen kam und sich auf sein Gesicht presste. Ein schwerer, bitterer Medizingeruch drang ihm in die Nase. Dann stürzte er plötzlich in ein bodenloses Loch, das exakt die Farbe von Virginias Augen hatte. Ein abgrundtiefer Schlaf und entsetzliche Träume warteten auf ihn.

14

In seinen Träumen kämpfte Sherlock mit einer riesigen Schlange. Ihr Körper war so dick wie ein Bierfass und bestand, soweit er es sehen konnte, nur aus Muskeln und Rippen. Ihr Kopf sah aus wie ein flaches Dreieck mit zwei sägeartigen Zähnen an den Seiten. Sie kämpften irgendwo im Wasser, aber in seinem Traum war das Wasser so dick und schwarz wie Rübensirup. Die Schlange ringelte sich langsam um seinen Körper und zog sich zusammen, um seine Rippen zu brechen. Aber das zähflüssige Wasser erschwerte ihre Bewegungen, und Sherlock war in der Lage, den um ihn gewundenen Körper auseinanderzudrücken, indem er sich mit Armen und Beinen fest dagegenstemmte. Doch als er dann zu fliehen versuchte, wurden seine Schwimmbewegungen von dem zähflüssigen Wasser so grotesk verlangsamt, dass die Schlange erneut ihren Körper um ihn schlängeln und langsam wieder zudrücken konnte. Und so ging es immer weiter: Verstrickt in einem endlosen Kampf, versuchte Sherlock unaufhörlich der Schlange zu entkommen, während diese beharrlich bestrebt war, ihn zu umklammern.

Mit dem Gefühl, dass eine Menge Zeit verstrichen war, erwachte Sherlock endlich. Mund und Hals fühlten sich staubtrocken an, und als er mit der Zunge über den Gaumen fuhr, blieb sie zunächst daran haften. Außerdem war er am Verhungern.

Nach einer Weile fühlte er sich stark genug, um sich aufzusetzen, ohne dass ihm übel wurde. Und was er sah, ließ ihn vorübergehend Durst, Hunger und Übelkeit vergessen.

Er lag in einem Himmelbett, über das sich ein kunstvoll bestickter Baldachin wölbte. Sein Kopf ruhte auf weichen Daunenkissen und der Raum war mit dunklem Eichenholz getäfelt.

Erlesene, mit detailreichen Motiven verzierte Teppiche bedeckten die glänzend lackierten Bodendielen.

Es war derselbe Raum, in dem er aufgewacht war, nachdem man ihn im Boxring k.o. geschlagen hatte, auf dem Jahrmarkt am Rand von Farnham.

Aber wie war das möglich? Baron Maupertuis hatte das Anwesen doch aufgegeben und es völlig leer zurückgelassen. Er konnte doch unmöglich so rasch zurückgekehrt sein? Und warum sollte er so was tun?

Sherlock rollte sich vom Bett herunter und stellte sich aufrecht hin. Er fuhr sich mit einer Hand durchs Gesicht und war überrascht, als er um Mund und Nase herum auf irgendetwas Trockenes stieß. Er rieb daran, zog etwas davon von seiner Haut ab und betrachtete seine Finger. Sie waren mit Fäden einer schwarzen Substanz bedeckt. Er rieb die Finger aneinander und stellte verwundert fest, dass die Fäden leicht klebrig waren.

Er erinnerte sich an den Stoffballen, der ihm auf den Mund gepresst worden war. Eine Chemikalie? Eine Droge, um ihn zu betäuben? Das war nicht unwahrscheinlich.

Und Virginia? Der plötzlich in ihm aufbrodelnde Zorn spülte die letzten Reste von Schlaf und Übelkeit aus seinem Körper. Was war mit Virginia passiert? Sollte jemand ihr etwas angetan haben, dann würde er ihn …

Was würde er? Ihn umbringen? Er war momentan nicht gerade in der Lage, so etwas zu tun.

Er musste Informationen sammeln. Herausfinden, was hier vor sich ging, und warum. Erst dann würde er etwas unternehmen können.

Sherlock ging zu den geschlossenen Vorhängen hinüber und zog sie zurück. Er hatte erwartet, auf trockene rote Erde und Hunderte von Bienenstöcken zu blicken. So wie beim letzten Mal, als er in diesem Raum gewesen war. Aber was er nun sah, ließ ihn überrascht zurücktaumeln.

In kurzer Entfernung zum Haus zog sich ein Strand aus grauem Sand entlang und dahinter erstreckte sich bis zum fernen Horizont eine Fläche aus rollenden, schaumgekrönten Wogen. Der Himmel war strahlend blau. Und irgendwo in der Ferne konnte Sherlock mehrere Segel erkennen.

Er schloss einen Moment lang die Augen und dachte nach. Halluzinierte er gerade? Durchaus möglich, vermutete er. Aber der Traum von der Schlange und dem sirupartigen Wasser hatte etwas Bizarres und Unlogisches in der Wahrnehmung gehabt. Etwas, das – im Nachhinein betrachtet – bewirkt hatte, dass ihm irgendwie klar gewesen war, dass er träumte. Wohingegen das da draußen klar erkennbar war und irgendwie echt aussah.

War das Bild, das sich ihm draußen vor dem Fenster bot, etwa genau das? Ein perfekt ausgeführtes Gemälde, das einem den Eindruck vermittelte, es mit realem Strand, Meer und Sonne zu tun zu haben, während es sich tatsächlich nur um Farbpigmente auf einer Leinwand oder einer Tafel handelte? Er öffnete wieder die Augen und sah noch einmal genauer hin.

In weiter Entfernung waren kleine, weiße w-förmige Umrisse zu erkennen, die über den Wellen kreisten, sich also bewegten, während er sie beobachtete. Seevögel, die sich im Aufwind treiben ließen. So etwas konnte man nicht in einem Bild vortäuschen. Was auch immer sich da draußen befand, war real.