Es waren einige Meilen bis in die Stadt, und sie brauchten fast eine Stunde für die Strecke. Sherlock spürte, wie seine Muskeln in den Beinen und im Kreuz immer steifer wurden. Morgen würde ihm jede Bewegung schwerfallen, und alles würde weh tun. Aber im Moment sorgte die Anstrengung dafür, dass sich die tiefe Depression, die ihn seit seiner Ankunft auf Holmes Manor im Griff gehabt hatte, langsam verflüchtigte.
Als sie sich der Stadt näherten und auf beiden Straßenseiten in immer regelmäßigeren Abständen Häuser auftauchten, nahm Sherlock einen muffigen, unangenehmen Geruch wahr, der von der Stadt heranzuwehen schien.
»Was ist das für ein Gestank?«, fragte er.
Matty schnüffelte. »Was für ein Gestank?«
»Dieser Gestank. Das musst du doch riechen! Es stinkt wie ein alter, nass gewordener Teppich, den man wieder im Haus ausgelegt hat, bevor er richtig trocken geworden ist.«
»Das wird von den Brauereien kommen. Es gibt ziemlich viele davon am Flussufer. Barratt’s Brauerei ist die größte. Barratt expandiert wegen der ganzen Truppen, die neuerdings in Aldershot stationiert sind. Das ist der Geruch von nasser Gerste. Es war das Bier, das meinen Vater so fertig gemacht hat. Er ist zur Navy gegangen, um von dem Zeug wegzukommen. Aber dort hat dann schon der Rum auf ihn gewartet.«
Sie hatten mittlerweile die Außenbezirke der Stadt erreicht, und zwischen den Häusern und Hütten waren nun immer weniger Lücken zu sehen. Ein Großteil der Häuser bestand aus roten Backsteinen, und die Dächer waren entweder mit dunkelroten Ziegeln oder mit Schilfrohrbündeln gedeckt, die sich wie dicke Brotlaibe vorwölbten. An dem Hang, der sich sanft hinter den Häusern erhob, thronte eine graue Steinburg über der Stadt. Hinter der Burg zog sich der Hang weiter bis zu einem fernen Höhenrücken empor. Sherlock fragte sich unwillkürlich, was für einen Sinn eine Burg an solch einer Stelle machte, konnte doch ein Angreifer von einer erhöhten Position aus nach Belieben Pfeile, Steine und Feuer auf sie herabregnen lassen.
»Hier findet jeden Tag ein Markt statt«, berichtete Matty. »Auf dem Marktplatz. Da werden Schafe, Kühe, Torten und alles Mögliche verkauft. Guter Platz, um was abzugreifen. Vor allem wenn die Händler abends zusammenpacken und aufräumen. Dann sind sie immer in Eile, um noch vor Sonnenuntergang rauszukommen. Dabei fallen alle möglichen Sachen von den Ständen oder sie werden weggeschmissen, weil sie ’n bisschen angegammelt oder wurmstichig sind. Allein von dem Zeugs, das sie dalassen, kannste sehr gut essen.«
»Entzückend«, erwiderte Sherlock trocken. Zumindest das Essen auf Holmes Manor war etwas, auf das man sich freuen konnte. Auch wenn dies keineswegs für die Atmosphäre während der Mahlzeiten galt.
Sie befanden sich nun in der eigentlichen Stadt, und auf der Straße drängten sich mittlerweile so viele Menschen, dass die beiden Jungen immer wieder vom Bürgersteig auf die zerfurchte Straße treten mussten, um nicht mit jemandem zusammenzustoßen. Sherlock verbrachte die meiste Zeit damit, auf Pferdeäpfelhaufen zu achten, und gab sein Bestes, um nicht in einen hineinzutreten. Der allgemeine Bekleidungsstandard hatte sich verbessert. Die respektablen Jacketts und Krawatten der Männer sowie die ansehnlichen Kleider der Damen waren nun häufiger im Straßenbild zu sehen als die einfachen Kniehosen, Jacken und Kittel der Landbevölkerung. Überall waren Hunde zu sehen: sowohl ordentlich an der Leine gehaltene als auch räudige und aggressive Streuner, die auf der Suche nach Futter waren. Die dünnen, unterernährten Katzen hingegen hockten verborgen im Schatten und taxierten mit großen Augen die Umgebung. Auf der Straße zogen in beiden Fahrtrichtungen Pferdekarren und Kutschen vorbei, die den Pferdedung immer tiefer in den zerfurchten Untergrund drückten.
Als sie eine schmale Gasse erreichten, die von der Hauptstraße abzweigte, blieb Matty stehen.
»Was ist los?«, fragte Sherlock.
Matty zögerte. »Das Ding, das ich gesehen hab …« Er zuckte die Achseln. »Das ist da weiter unten gewesen. Vor ein paar Tagen. Aber ich kapier’s einfach nicht.«
»Willst du es mir zeigen?«
Statt zu antworten rannte Matty die Gasse hinunter. Sherlock sprintete hinterher, um ihn einzuholen.
An einer Stelle bog die Gasse in einen kleinen Seitenweg ab, der so eng war, dass Sherlock die Gebäude auf beiden Seiten mit ausgestreckten Armen berühren konnte. Aus einigen der oberen Fenster lehnten sich die Bewohner heraus und unterhielten sich mit den Nachbarn von gegenüber, als würden sie bloß ein einfaches Pläuschchen über dem Gartenzaun halten.
Matty starrte zu einem ganz bestimmten, leeren Fenster hoch. Die Tür darunter war geschlossen und das Haus sah verlassen aus.
»Da oben war’s«, sagte er. »Ich hab Rauch gesehen. Aber der bewegte sich irgendwie. Er kam aus dem Fenster, kroch die Wand hoch und verschwand über das Dach.«
»So was macht Rauch nicht«, stellte Sherlock klar.
»Dieser Rauch schon«, widersprach Matty energisch.
»Vielleicht hat ihn der Wind fortgetrieben.«
»Vielleicht.« Matty schien nicht überzeugt zu sein. Er runzelte die Augenbrauen, während er sich an die Geschehnisse erinnerte. »Ich hab jemand schreien gehört. Drinnen. Dann bin ich weggerannt, weil ich Schiss hatte. Aber später bin ich wiedergekommen. Da stand ein Karren hier draußen, auf den sie eine Leiche geladen haben. Der Körper war mit einem Bettlaken bedeckt. Aber das hat sich in der Tür verfangen und wurde weggerissen.« Er drehte sich zu Sherlock um. Sein Gesicht hatte sich in eine Maske der Angst und Ungewissheit verwandelt. »Er war mit Beulen übersät. Großen roten Beulen. Überall auf dem Gesicht und seinem Hals und den Armen. Und sein Gesicht war total verzerrt. So als wäre er unter entsetzlichen Qualen gestorben. Glaubst du, das war die Pest? Ich hab davon gehört, wie sie früher hier im Land getobt hat. Glaubst du, sie ist zurückgekommen?«
Sherlock lief ein Schauder über den Rücken. »Vermutlich könnte das durchaus der Beginn einer neuen Seuche sein. Aber ein Tod allein macht noch keine Pest. Und es könnte sich ebenso gut auch um Scharlach handeln oder irgendetwas anderes.«
»Und dieser Schatten, den ich über das Dach habe schweben sehen? Was ist damit? Ob das wohl seine Seele war? Oder etwas anderes? Etwas, das gekommen ist, um sie zu holen?«
»Das«, sagte Sherlock entschieden, »war höchstwahrscheinlich nur eine Illusion. Hervorgerufen durch einen bestimmten Sonnenstand am Himmel und eine vorbeiziehende Wolke.« Er nahm Matty bei den Schultern und zog ihn fort. »Komm, lass uns gehen.«
Er führte Matty vom Haus fort und bugsierte ihn aus dem engen Weg heraus. Innerhalb kürzester Zeit waren sie wieder auf der Hauptstraße, die durch Farnham führte. Matty war blass und schwieg.
»Geht es dir gut?«, fragte Sherlock vorsichtig.
Matty nickte. »Tut mir leid«, sagte er beschämt. »Es ist nur … es macht mir Angst. Ich mag keine Krankheiten, seit …«
»Ich verstehe. Schau mal, ich weiß nicht, was du gesehen hast. Aber ich werde darüber nachdenken. Mein Onkel hat eine Bibliothek. Vielleicht lässt sich da eine Antwort finden. Dort oder in den lokalen Zeitungsarchiven.«
Sie gingen über eine schmale Brücke in die Stadt zurück. Die Straße führte an einem großen Holztor vorbei, das in eine Steinmauer eingelassen war. Davor sahen sie ein merkwürdiges Tier am Boden liegen. Es hatte die Beine steif zu allen Seiten ausgestreckt und bewegte sich nicht. Sein Fell war dreckig und glanzlos. Einen Moment lang dachte Sherlock, es wäre ein Hund. Aber als sie näher kamen, erkannte er, was da vor ihnen lag. Das Tier hatte eine spitze Schnauze und kurze Beine. Die abwechselnd hellen und dunkelgrauen Fellstreifen mussten zu Lebzeiten einmal weiß und schwarz gewesen sein. Kein Zweifel, es war ein Dachs. Sherlock sah, dass der Bauch des Tieres platt gepresst auf dem Boden lag. Es war überfahren worden. Wahrscheinlich von einem Kutschrad.