Выбрать главу

Matty verlangsamte seine Schritte, während er sich dem Tier näherte.

»Du solltest auf der Hut sein, wenn du hier vorbeigehst«, vertraute er Sherlock mit einer Stimme an, als wäre einzig und allein sein Begleiter derjenige, der berechtigten Grund zur Angst hatte, während er hingegen vollkommen sicher war. »Ich weiß nicht, was sie da treiben. Aber die haben Wachen da drinnen. Riesige Kerle mit Schlagstöcken und Bootshaken.«

Sherlocks Vermutung nach sollten diese Männer lediglich einen gewissen Schutz für die Lohngelder gewährleisten, die man drinnen vermutlich für die dort tätigen Arbeiter aufbewahrte. Gerade wollte er Matty seine entsprechenden Mutmaßungen mitteilen, als das Tor aufschwang. Zwei Männer betraten die Straße. Ihre grimmigen vernarbten Schlägervisagen standen im krassen Gegensatz zu ihrer tadellosen schwarzen Samtkleidung. Sie schauten nach links und rechts und musterten die Jungen einen Moment lang prüfend, bevor sie den Blick wieder abwandten und jemandem drinnen mit der Hand ein Zeichen gaben.

Eine Kutsche, die von einem einzigen Pferd gezogen wurde, kam zum Vorschein. Auf dem Kutschbock saß ein großer, kräftiger Mann mit Händen wie Spaten und einem von Narben bedeckten Kahlkopf.

Die beiden Männer in Schwarz schlossen das Tor. Dann sprangen sie hinten auf die Kutsche und klammerten sich fest, als sie sich in Bewegung setzte.

»Lass mal sehen, ob der feine Herr einen Viertelpenny rausrückt«, flüsterte Matty. Bevor Sherlock ihn aufhalten konnte, rannte Matty auch schon auf die Kutsche zu.

Aufgeschreckt scheuten die Pferde zurück und stemmten sich gegen die Deichsel, die sie mit der Kutsche verband. Der Fahrer versuchte, die Kontrolle wiederzuerlangen, und schlug mit der Peitsche auf sie ein. Aber dadurch machte er es nur noch schlimmer, und die Kutsche drehte sich herum, als die Pferde versuchten, von Matty wegzukommen.

Im nächsten Augenblick gefror Sherlock das Blut in den Adern. Durch das Kutschenfenster starrte ihn ein von dünnen weißen Haaren eingerahmtes, fast skelettartiges bleiches Gesicht an. Ohne mit der Wimper zu zucken, musterten ihn ausdruckslose Knopfaugen. Kleine, rosafarbene Augen wie die einer weißen Ratte. Ein Gefühl instinktiven Widerwillens durchfuhr Sherlock. Es war so, als hätte er nach einem Salatblatt auf dem Teller gegriffen und stattdessen eine Schnecke erwischt. Sherlock wollte sich in Bewegung setzen und zurückweichen. Aber der bleiche, bösartige Blick nagelte ihn förmlich fest, und er war unfähig, auch nur ein Glied zu rühren. Doch dann gelang es dem vierschrötigen Fahrer, wieder die Kontrolle zu erlangen. Die Pferde galoppierten an den beiden vorbei und zogen die Kutsche samt ihrer Insassen mit sich fort.

»Hab nicht mal ’ne Chance gehabt«, maulte Matty und klopfte sich den Staub von der Kleidung. »Ich dachte, der Kerl geht gleich mit der Peitsche auf mich los.«

»Wer war der Mann in der Kutsche?«, fragte Sherlock mit beunruhigter Stimme.

Matty schüttelte den Kopf. »Hab ihn nicht gesehen. Hat er reich ausgesehen?«, fragte er hoffnungsvoll.

»Er sah aus, als wäre er seit drei Tagen tot«, erwiderte Sherlock nur.

3

Der aus dem Zugschornstein strömende heiße Dampf quoll zwischen den Bretterbohlen der Brücke empor und benetzte die Beine der beiden Jungen. Lachend und nass liefen sie dabei in entgegengesetzte Richtungen. Majestätisch stampfte der Zug unter ihnen hindurch und fuhr langsamer werdend in den Bahnhof von Farnham ein. Die beiden gingen wieder zur Mitte der Holzbrücke zurück, die die Bahnsteige miteinander verband, und beobachteten, wie der Zug allmählich unter Kettengeklirre und ohrenbetäubendem Zischen zum Stehen kam, als der Lokführer den überschüssigen Dampf abließ.

Es war der Morgen des folgenden Tages. Vor Eintreffen des Zuges hatte der Bahnsteig noch einsam und verlassen dagelegen. Aber in kürzester Zeit hatte er sich auf magische Weise in ein geschäftiges Menschengewimmel verwandelt, das auf den Ausgang zuströmte. Männer in schwarzen Gehröcken und mit Zylindern auf dem Kopf kamen aus den Erste-Klasse-Abteilen geschlüpft wie Insekten aus ihren Kokons. Schulter an Schulter schoben sie sich mit den Fahrgästen aus der Zweiten Klasse voran – beleibten Männern mit Tweedjackets und Schiebermützen sowie Frauen in ansehnlichen Kleidern –, wozu sich noch etliche muskelbepackte und wettergegerbte Arbeiter in abgewetzten Hemden und geflickten Hosen gesellten, die eng aneinandergequetscht in der Dritten Klasse gesessen hatten. Männer in Uniform zogen eine Schiebetür in einem der Waggons auf und machten sich daran, Holzkisten und große Beutel abzuladen, bei denen es sich Sherlocks Vermutung nach um Postsäcke handelte.

Gepäckträger kamen aus ihren wo auch immer gelegenen Büros zum Vorschein, in denen sie sich normalerweise versteckt hielten, und begannen, Kisten und Taschen von den Waggons zu den Gepäckkarren zu transportieren. Mit Ausnahme von ein paar Stadtbewohnern, die über die Ereignisse der Woche plauderten, lag der Bahnsteig innerhalb weniger Minuten wieder einsam und verlassen da. Ein wichtigtuerischer Schaffner mit Hut und blauer Uniformjacke trat an den Bahnsteig. Er blickte zunächst nach vorne Richtung Lok, dann nach hinten ans Zugende, führte seine Pfeife an die Lippen und stieß einen kurzen, scharfen Pfiff aus. Der Zug schien zunächst zu beben, bevor er begann, sich langsam aus dem Bahnhof zu quälen. Schwerfällig zuerst, doch dann immer schneller. Mit schepperndem Geräusch spannten sich nacheinander die Waggonverbindungen, ehe die Wagen aus dem Bahnhof gezogen wurden.

»Ist das der Zug nach London oder der Zug aus London?«, fragte Sherlock.

Matty blickte in beide Richtungen das Gleis entlang. »Nach London«, antwortete er schließlich. »Von hier geht die Linie nach Tongham, Ash, Ash Wharf und dann weiter nach Brookwood und Guildford. Von da aus kannst du einen Zug direkt nach London nehmen.«

London. Sherlock starrte die Bahnschienen entlang, wo der Zug gerade um eine Kurve fuhr und verschwand. Am Ende seiner Fahrt hätte er sich seinem Bruder Mycroft bis auf eine oder zwei Meilen genähert. Mycroft würde dann wahrscheinlich noch in seinem Büro sitzen und Dokumente studieren oder über einer Weltkarte brüten, die dort, wo das Britische Empire seinen Fuß hingesetzt hatte, rot markiert war. Für einen Moment war das Verlangen, hinter dem Zug herzulaufen und aufzuspringen, fast überwältigend.

Er vermisste seinen Bruder. Er vermisste seinen Vater, seine Mutter und seine Schwester. Er vermisste sogar seine Schule. Wenn auch nicht ganz so sehr.

»Was ist eigentlich in Brookwood los?«, fragte er, vor allem, um seine Gedanken auf ein anderes Thema zu lenken.

Ein Zittern schien durch Mattys Körper zu gehen. »Frag nicht«, erwiderte er.

»Nein, mal im Ernst.« Sherlocks Interesse war auf einmal geweckt. »Würde es sich lohnen, wenn wir da mal hinfahren?«

Matty schüttelte den Kopf. »Tagsüber gibt es dort nichts Interessantes zu entdecken«, erklärte er entschieden. »Und nachts würdest du nicht dort sein wollen, glaub mir.«

»Ich dachte, wir könnten uns Fahrräder besorgen.« Sherlock ließ nicht locker. »Mal rauskommen und ein bisschen durch die Gegend fahren. Ein paar Dörfer und Städte angucken.«

Matty blickte ihn stirnrunzelnd an. »Warum sollten wir so was tun wollen?«

»Aus Neugierde?«, schlug Sherlock vor. »Fragst du dich nie, wie die Dinge wohl sind, bevor du sie zu Gesicht bekommst?«

»Städte sehen wie Städte und Dörfer wie Dörfer aus«, behauptete Matty. »Und die Leute sehen überall gleich aus. So ist das Leben nun mal. Komm, lass uns gehen.«

Er führte Sherlock die gusseisernen Stufen zum Bahnsteig hinunter, auf dem die Fahrgäste ausgestiegen waren. Von dort gingen sie auf die Straße hinaus.