Am Straßenrand hatte ein Pferdekarren haltgemacht. Drei Männer luden mit Stroh isolierte Eiskisten auf, die mit dem Zug gekommen waren.
Einer der Männer, ein wieselgesichtiger Kerl mit gelben Zähnen, starrte die Jungen an, als sie an ihnen vorbeigingen.
»Junger Master Sherlock«, hörten sie eine schneidende Stimme hinter sich. »Ich bin enttäuscht, Sie mit dreckigen Gassenjungen verkehren zu sehen. Ihr Bruder wäre zutiefst beschämt.«
Obwohl er nicht wusste, wer ihn da ansprach, errötete Sherlock sogleich und drehte sich um. Nur wenige Meter vor sich sah er die Haushälterin MrsEglantine stehen. Zwei Männer, die Sherlock von Holmes Manor her wiedererkannte, luden gerade eine Reihe von Lebensmittelkisten auf den Karren, der von einem großen und offensichtlich gutmütigen Pferd gezogen wurde. Die Kisten waren höchstwahrscheinlich mit dem Zug gebracht worden.
»Gassenjunge?« Sherlock sah sich um. Die einzige andere Person, die anwesend war, war Matty. Mit wachsamem Blick beobachtete er MrsEglantine, offensichtlich bereit, sofort loszurennen, sobald die Dinge schief liefen. »Wenn Sie ihn für einen Gassenjungen halten, sollten Sie häufiger mal aus dem Haus gehen, MrsEglantine«, sagte Sherlock kühn und ärgerte sich über ihre Einstellung.
Die Haushälterin presste die Lippen zusammen. »Der Herr wünscht Sie zu sprechen, wenn Sie zurück sind«, sagte sie, als die beiden Männer hinter ihr die letzte Kiste auf den Karren hievten. »Bitte lassen Sie ihn nicht warten.« Sie wandte sich ab und kletterte nach vorn auf den Kutschbock. »Das Mittagessen wird serviert, ob Sie nun anwesend sind oder nicht«, fügte sie hinzu, während sich einer der Männer neben sie setzte und der andere auf die Rückseite kletterte.
»Und Ihr Freund da ist nicht eingeladen.«
Die Pferde trotteten los und zogen den Karren hinter sich her. MrsEglantine wandte sich nicht mehr nach Sherlock um, sondern blickte starr geradeaus. Der Mann, der hinten auf dem Karren Platz genommen hatte, sah Sherlock an, nickte gefällig und führte grüßend eine Hand zur Kappe. Ihm fehlten einige Zähne, und sein Ohr zierte eine Kerbe, die aussah, als hätte er sie sich mit einem Messer, einer Axt oder Ähnlichem beigebracht.
»Wer war das?«, fragte Matty und stellte sich neben Sherlock.
»Das war MrsEglantine. Sie ist Wirtschafterin in dem Haus, in dem ich wohne.« Er machte eine Pause. »Sie mag mich nicht.«
»Schätze mal, sie mag niemanden«, stellte Matty fest.
»Ich gehe besser«, sagte Sherlock. »Wenn ich schnell bin, brauche ich eine halbe Stunde zurück, und sie hat es ernst gemeint mit dem Essen. Wenn ich es verpasse, laufe ich bis zum Abendessen hungrig herum.« Er drehte sich um und blickte Matty an. »Sehen wir uns morgen?«
Matty nickte. »Wieder hier? Gegen zehn?«
Sherlock brauchte fast eine Dreiviertelstunde, um zurück nach Holmes Manor zu gehen, und er kam gerade an, als der Gong zum Essen ertönte. Er bürstete den gröbsten Staub aus der Kleidung und betrat das Esszimmer. Im Gegensatz zu seinen sonstigen Gepflogenheiten hatte Sherrinford Holmes, der gerade in einer Broschüre las, am Kopfende des Tisches Platz genommen. Seine Frau Anna wuselte umher, kontrollierte das Besteck und redete mit sich selbst. MrsEglantine stand hinter Onkel Sherrinford und reagierte nicht, als Sherlock eintrat. Aber die Art, wie sie es betont vermied, ihn anzusehen, zeigte ihm, dass sie von seiner Ankunft Notiz genommen hatte.
»Guten Tag, Onkel Sherrinford, Tante Anna«, sagte Sherlock höflich, als er sich setzte.
Sherrinford nickte in Sherlocks Richtung, ohne von seiner Broschüre aufzusehen. Anna schaffte es, so etwas wie einen Gruß in ihren fortwährenden Monolog einzubauen.
Eine Magd kam mit einer Suppenterrine herein. Unter der Aufsicht von MrsEglantine füllte sie die Suppe in Schüsseln. Sherlock beobachtete alles ohne großes Interesse, bis Sherrinford seine Broschüre niederlegte, sich vorbeugte und ihn ansprach. »Junger Mann, ich bekomme nach dem Mittagessen Besuch, und ich wäre dir sehr verbunden, wenn du anwesend wärst. Dein Bruder hat mich dazu angehalten, sicherzustellen, dass du weiter an deiner Bildung arbeitest, während du nicht in der Schule weilst. Außerdem deutete er an, dass er wünscht, du mögest dich von Schwierigkeiten fernhalten. Aus diesem Grund habe ich einen Lehrer angestellt. Er wird sich deiner für drei Stunden am Tag annehmen. Außer an Sonntagen, wo ich von dir erwarte, mit dem Rest der Familie zur Kirche zu gehen. Sein Name lautet Amyus Crowe.« Er schniefte. »MrCrowe ist zu Besuch in unserem Land und kommt aus den Kolonien, glaube ich. Aber nichtsdestotrotz hat er sich als gelehrter und urteilsfähiger Mann erwiesen. Sein Latein und Griechisch sind ausgezeichnet. Ich erwarte von dir, dass du seinen Anweisungen Folge leistest.«
Sherlock spürte, wie sein Gesicht plötzlich vor Zorn brannte. Als er auf Holmes Manor angekommen war, hatte er zunächst nur sich endlos hinziehende Tage vor sich liegen sehen. Leere und öde Tage. Und verzweifelt hatte er sich gefragt, was er mit seiner Zeit anfangen sollte. Aber dann hatte ihm die Begegnung mit Matty Arnatt eine ganze Reihe neuer Möglichkeiten eröffnet.
Doch jetzt sah es so aus, als würde sich das alles wieder in Luft auflösen.
»Danke, Onkel Sherrinford«, murmelte er und versuchte, dankbar auszusehen. Aber sein Gesicht wollte einfach nicht seinen Befehlen gehorchen. MrsEglantine legte ein dezentes Lächeln an den Tag, ohne Sherlocks Blick zu begegnen.
Der Suppe folgte eine Fleischpastete mit dickem Teigmantel und Soße, woran sich wiederum ein »Summer-Pudding« anschloss. Sherlock aß, aber er schmeckte das Essen kaum. Seine Gedanken kreisten beständig um die Tatsache, dass sich seine Ferien gerade in eine persönliche Hölle verwandelten. Und er konnte es kaum erwarten, endlich wieder in die vorhersehbare Stabilität der Schule zurückzukehren.
Nach dem Mittagessen bat Sherlock, dass man ihn entschuldigte.
»Geh nicht zu weit fort«, ermahnte ihn Sherrinford. »Denk an meinen Besucher.«
Sherlock lungerte in der Eingangshalle herum, während die Familie getrennte Wege ging. Sherrinford begab sich in die Bibliothek und Tante Anna ins Gewächshaus. Sherlock vertrieb sich die Zeit damit, sich die Gemälde anzusehen, und versuchte zu entscheiden, welches am amateurhaftesten ausgeführt worden war. Nach einer Weile trat ein Dienstmädchen mit einem Silbertablett zu ihm, auf dem ein Briefumschlag lag.
»Master Holmes«, sagte sie leise. »Dieser Brief kam heute Morgen für Sie an.«
Sherlock schnappte sich den Umschlag vom Tablett. »Für mich? Danke!«
Sie lächelte und verschwand. Sherlock blickte sich um – halb in der Erwartung, MrsEglantine würde gleich auftauchen, um ihm den Brief aus der Hand zu reißen. Aber er war allein in der Halle. Der Umschlag war tatsächlich an »Master Sherlock Holmes, Holmes Manor, Farnham« adressiert. Und abgestempelt worden war er in Whitehall. Mycroft! Er war von Mycroft! Ungeduldig fuhr er mit dem Fingernagel unter die Wachsversiegelung und zog die Umschlagklappe nach oben.
Im Umschlag steckte ein einzelner Briefbogen. Oben war Mycrofts Londoner Adresse aufgedruckt und darunter hatte sein Bruder in seiner ganz eigenen eleganten Schrift folgende Zeilen geschrieben:
Mein lieber Sherlock,
ich hoffe, dass, wenn Du diesen Brief in Händen hältst, es Dir gut geht. Zweifellos wirst Du Dich im Moment verlassen und alleine fühlen und deswegen verärgert sein. Bitte glaube mir, dass ich Deine Gefühle verstehen kann und sie respektiere. Ich wünschte nur, es gäbe etwas, womit ich Dir helfen könnte.
Es gibt etwas!, dachte Sherlock. Du könntest mich zu dir holen, damit ich die Ferien bei dir verbringen kann! Kaum war ihm dieser Gedanke gekommen, verwarf er ihn auch schon wieder. Mycroft hatte seine eigenen Probleme. Er hatte eine Arbeit, die ihm viel abverlangte, und darüber hinaus fungierte er während der Abwesenheit ihres Vaters als De-Facto-Familienoberhaupt. In dieser Eigenschaft hatte er sich nicht nur um ihre Mutter zu kümmern, deren Gesundheit angeschlagen war, sondern auch um ihre Schwester, die ihre eigenen Probleme hatte. Nein, Mycroft hatte für sie beide die beste Entscheidung getroffen. Manchmal, dachte Sherlock, sind die einzigen Optionen, die sich einem bieten, eben allesamt unfair, und man muss eher die wählen, die die negativen Konsequenzen minimiert, als jene, die die guten maximiert. Das fühlte sich verdächtig nach absonderlicher Erwachsenen-Denkweise an, und die sich aufdrängende Schlussfolgerung, dass so das Erwachsenenleben aussehen würde, gefiel ihm ganz und gar nicht.