Nein, dieser Gedanke war abwegig, ich verwarf ihn sofort. Der Mann hinkte, er war ohnehin nicht mehr kriegstüchtig. Mochte er sein, wer er wollte. Eigentlich war es nicht klug, länger darüber nachzudenken. Und vollkommen ausgeschlossen war es, irgendwelche Nachforschungen anzustellen. Wenn wir dem Grafen Hrotbert einen Hinweis gaben, würden wir unserer Pflicht genügen. Mochte er selbst nach seinem Zentgrafen suchen!
Um die Wahrheit zu sagen, es wäre Odo am liebsten gewesen, die Sache mit Schweigen zu übergehen. Er hing schon so sehr an seinem Impetus, dass die Sorge, ihn wieder hergeben zu müssen, mit seinem Gerechtigkeitssinn in Konflikt geriet. Erst als ich ihm versicherte, dass ein rechtsgültiger Kauf vor Zeugen, nämlich Fulk und mir, auf keinen Fall wieder rückgängig gemacht werden könne, war er beruhigt.
3. Kapitel
Es dämmerte früher, als uns lieb war. Der Wald zu beiden Seiten der Straße verwandelte sich. Sein geheimnisvolles nächtliches Leben erwachte, Gefahr zog herauf. Zeit war es zu rasten.
Wir befragten einen Köhler und seine Auskunft nahm uns die Hoffnung, den Grafensitz noch an diesem Tag zu erreichen. Doch sei ein großes Dorf mit einem Herrenhof in der Nähe. Auch ein Flüsschen gebe es dort, um die Pferde zu tränken. Odo gab dem Mann ein Halbstück und befahl, uns dorthin zu führen.
Nach kurzer Zeit verließen wir die Straße. Über einen schmalen, durch dichtes Unterholz geschlagenen Pfad ging es einen Hügel hinauf, dann wieder hinab und nochmals hinauf. Schließlich blickten wir auf ein Tal hinunter, aus dem uns ein paar Lichter entgegen glühten wie Johannisfunken im Grase. Die meisten sah man an der Stelle, wo sich das Herrenhaus befand. Die Häuser und Hütten, die es umgaben und über das ganze Tal verstreut waren, konnte man nur noch schemenhaft wahrnehmen.
„Wem gehört dieses Dorf?“, fragte ich.
„Das meiste gehört Herrn Mommo“, antwortete unser Führer. . „Dort seht Ihr den Herrenhof und das Saalhaus. Ihr werdet gastliche Aufnahme finden.“
„Ist Herr Mommo vielleicht euer Zentgraf?“
„Ja.“
„Und weißt du, ob er zu Hause ist?“
„Das wohl nicht. Er gehört zum Heerbann und ist sicher schon fort. Genau weiß ich es aber nicht, lebe ja im Wald.“
„Wir sollten uns eine andere Herberge suchen“, sagte Odo unwillig. „Wenn der Zentgraf nicht zu Hause ist … wer soll uns empfangen?“
„Oh, darüber macht Euch keine Sorgen. Empfangen wird Euch Frau Begga, die Zentgräfin. Sie kümmert sich hier auch sonst um alles. Befehlt Ihr, dass ich Euch bis ans Tor führe?“
„Nicht nötig“, sagte ich, „das kann Impetus tun.“
Der Köhler hatte das Pferd in der Dunkelheit nicht erkannt. Bevor er sich aber wundern konnte, hatten wir ihn zurückgelassen.
In langer Reihe krochen wir, Menschen, Tiere und Wagen, den flachen Hügel hinunter. Der breiter werdende, ausgetretene Pfad wand sich direkt auf das Anwesen zu. Unter Trappeln und Knarren, Rasseln und Scheppern näherten wir uns dem Tor.
Plötzlich hob Odo, der vorn ritt, die Hand und brachte Impetus zum Stehen. So zerrten auch wir anderen an den Zügeln, starrten nach vorn und spitzten die Ohren.
Und da hörten wir eine Stimme. Eine hohe männliche Stimme. Dazu als Begleitung Harfentöne. Das klang von dort unten herauf aus dem Herrenhaus. Es war ein Gesang, wie wir ihn erst vor wenigen Tagen in der Halle des Königs vernommen hatten. Der Gesang des berühmten Skops – des Herrn Siegram.
„Ein guter Bekannter“, sagte Odo. „Wusste ich doch, ich würde Goldkehlchen wiederbegegnen.“
„Du hattest Recht“, bemerkte ich. „Hätten wir es nur woanders versucht.“
„Warum? So wird der Abend vielleicht noch kurzweilig.“
„Ich fürchte, du könntest die Kurzweil zu weit treiben.“
„Was meinst du damit?“
„Du verstehst mich schon.“
„Beruhige dich, ängstliche Pfaffenseele! Wir werden dem Singvogel lauschen und sein buntes Gefieder bewundern. Nur muss er vermeiden, noch einmal von unseren Stiefeln zu singen, das würden sie diesmal krumm nehmen.“
„Du darfst dich auf keinen Fall mit ihm schlagen!“
„Schlagen? Lieber Freund, wie kommst du darauf? Ist es Stiefelart, sich zu schlagen? Zumal diese Stiefel noch neu sind und einen so guten, festen Tritt haben. Glaub mir, sie treffen jeden Hintern.“
Wenig später hielten wir unten am Tor. Es war ein Zangentor mit zwei hohen Wällen, die eine Gasse bildeten, an deren Ende sich die Pforte befand. Diese stand offen, es schien auch niemand auf den Wällen Wache zu halten.
Odo und ich saßen ab und übergaben den anderen unsere Reittiere.
„Wartet hier alle!“, sagte Odo. „Von Wachsamkeit halten sie nichts, aber wir wollen höflich sein und uns anmelden.“
Er stapfte voraus, ich folgte ihm. Wir durchschritten die Pforte und gelangten In den geräumigen Hof. Rechts und links standen niedrige Hütten. Es roch nach Mist und frischem Brot. Ein Hund bellte uns an,
Wir folgten dem Licht der Kienfackeln und den Tönen des Sängers und standen nach hundert Schritten an der Freitreppe des Herrenhauses. Das heißt, wir standen vor einer Wand von Rücken. Alles, was ringsum zwei Beine hatte, schien hier versammelt zu sein: das Hofgesinde, Bauern aus dem Dorf, Männer, Frauen, Kinder. Und darunter wohl auch die Torwächter, die eigentlich auf ihrem Posten sein sollten. Mit offenen Mäulern lauschten sie alle dem angelsächsischen Orpheus.
Dieser stimmte gerade einen neuen Gesang an, der Odo und mir bekannt vorkam. Es war die Weise von dem edlen Schutzflehenden, der sich in das Töchterlein seines Wirtes verliebt. Odo sah mich an und grunzte missfällig. Auch ich erinnerte mich nur zu gut daran, wie der Sänger mit diesem Lied Prinzessin Rotrud gehuldigt hatte. Gab es auch hier eine schöne junge Person, der er die Perle seiner Sangeskunst darbrachte?
Odo musste dieselbe Frage beschäftigen. Es überforderte seine Geduld, das Ende des Liedes abzuwarten. Er stieß einem vor ihm stehenden Bauern die Faust in den Rücken. Der machte eilfertig Platz. Noch ein paar Püffe und eine Gasse war frei. Wir schritten hindurch und stiegen die wenigen Stufen hinauf. Vor der offenen Tür standen ein paar stämmige Knechte, die Arme gekreuzt, uns den Rücken zukehrend. Odo verzichtete vorerst darauf, an ihnen vorbei weiter vorzudringen. Wir konnten nun aber schon einen Blick in das Innere des Hauses werfen.
Im vorderen Teil, dem Saal, einem großen düsteren Raum, dessen Wände aus dicken Pfosten und Bohlen von Eichenholz gezimmert waren, saßen auf Bänken an die zwanzig Männer. Die meisten waren ehrwürdige Graubärte, wohl die Vornehmsten und Ältesten des Herrenhofs und des Dorfes. Der Sänger stand in der Mitte, im Reisekostüm, die Harfe im Arm.
Ich hatte richtig vermutet: Unter den Zuhörern gab es Frauen. Es waren nur zwei, die allerdings die Blicke stark anzogen.
Die eine, groß, üppig, mit blonder Mähne, in einem reich gestickten Gewand und aufreizend mit Armreifen, Halsketten und Ringen geschmückt, lehnte an einem der Pfeiler, die den Saal gegen die dahinter liegende Kammer abgrenzten. Sie stand hoch aufgerichtet da und hatte den Kopf stolz in den Nacken gelegt, doch ihre lebhaften dunklen Augen, die grell ummalt und künstlich vergrößert waren, wie ich es bei den Römerinnen gesehen hatte, hingen verzückt an den Lippen des Sängers. Sie schien von dem Vortrag in ungewöhnlicher Weise erregt zu sein. Ihr mächtiger Busen hob und senkte sich heftig, ihre unsteten Hände griffen bald nach den Schlüsseln, bald nach dem Kamm, bald nach dem silbernen Messeretui und anderen Gegenständen, die an ihrem Gürtel hingen. Ich bin ja in Bezug auf Frauen kein Kenner, doch habe ich selten eine gesehen, die mir auf den ersten Blick so erhaben und gleichzeitig so unruhig erschien. Sollte sie die Hausherrin sein, die von dem Köhler erwähnte Zentgräfin Begga?