Inzwischen hatte sich Odo, der neben mir auf der Bank saß, in eine Unterhaltung mit dem jüdischen Kaufmann vertieft. Einigen Brocken, die ich auffing, entnahm ich, dass sie über das Emirat und die hispanische Halbinsel sprachen., Dies war eines von Odos Lieblingsthemen, Erinnerung an den verunglückten Pyrenäen-Feldzug des Königs, den er als junger Krieger mitgemacht hatte. Der Jude mochte sich dort unten noch besser auskennen, jedenfalls fesselte er Odo mit Auskünften und Anekdoten.
Mir war es recht. So tat ich, was ich mir gleich nach unserem Eintritt in den Saal vorgenommen hatte. Ich erhob mich und trat zu Herrn Siegram.
Der Sänger hatte sein Mahl beendet und klimperte ein bisschen auf der Harfe. Er summte und trällerte, sang auch mal einen Vers oder zwei, und sein junger Diener stimmte ein, sie lachten sich zu und sangen gemeinsam. Ein paar Zuhörer standen um sie herum und als Siegram ein frommes Liedchen begann, stimmte auch ich ein und sang sämtliche Verse. Der Sänger lobte mich spöttisch. So würden also die Herren Königsboten, die ihn unterbrochen hatten, seinen Auftritt zu Ende führen.
Ich tat nun, was ich mir vorgenommen hatte.
„Verzeiht uns“, sagte ich. „Es war nicht unsere Absicht, Euch zu stören. Ich hätte Euern Vortrag gern länger gelauscht.“
„Aber wozu entschuldigt Ihr Euch?“ Der Sänger neigte sich mir zu, damit die Männer vom Zenthof ihn nicht hören konnten. „Ich habe nur ein wenig gesungen, um mich für das Nachtlager zu bedanken. Und weil die Hausherrin mich so dringend gebeten hat. Das sind doch hier Bauern, fast Barbaren. Was verstehen die von meiner Kunst? Sie konnten dem Inhalt des Vortrags gar nicht folgen. Bemerkt Ihr, dass Dünste aus dem Stall aufsteigen, der hier unter dem Saal liegt? Wie lästig! Nein, ich bin Euch zu Dank verpflichtet. Sonst hätte man mich vielleicht genötigt, bis zum Morgengrauen weiter zu singen.“
„Immerhin hattet Ihr bei den edlen Frauen Erfolg“, sagte ich. „So war Eure Mühe nicht umsonst.“
„Wir singen nicht, um bei Frauen Erfolg zu haben“, belehrte mich Siegram, mit seiner schmalen, beringten Hand eine Locke aus der Stirn streichend. „Die hohe Kunst des Gesanges dient höheren Zielen. Wir sind das Gedächtnis des Volkes, wir bewahren Ereignisse, Taten und Leidenschaften vor dem Vergessen. Für euch Kirchenmänner sind wir wohl weniger wichtig, ihr kennt ja nur eine Tradition. Doch für die Herrschenden sind wir unentbehrlich. Nur sie sind das Publikum, das uns ansteht.“
„So nehme ich an, dass Ihr dorthin unterwegs seid, wo Ihr ein solches Publikum findet.“
„Ich werde in Thüringen erwartet. Alle Großen haben mich eingeladen.“
„Ihr reist nur zu zweit? Mit diesem jungen Mann?“
„Wir sind keine Hasenfüße“, sagte Herr Siegram fröhlich, wobei er dem hübschen Burschen in den Haarschopf griff. „Oder sind wir das, Aimo?“
„Oh nein, Herr Siegram“, hauchte der Jüngling.
„Ich biete Euch dennoch an“, sagte ich, „mit uns ein Stück im Schutze unserer Gesandtschaft zu reisen. Bis Fulda werden wir wohl denselben Weg haben.“
„Ich danke Euch. Aber wir werden sehr früh aufbrechen, noch in der Nacht. Ich pflege bei Sonnenaufgang zu dichten, es ist meine beste Schaffenszeit. Außerdem will ich nicht wieder die Eifersucht Eures Begleiters reizen, des künftigen Schwiegersohns unseres Königs.“
Herr Siegram sah zu Odo hinüber und schürzte seine vollendet geformten Lippen zu einem kleinen ironischen Lächeln.
Ich grüßte ihn und kehrte an meinen Platz zurück.
Inzwischen war die Zentgräfin wieder erschienen. Sie winkte Herrn Hauk und beide traten auf uns zu. Frau Begga nahm das Wort und entschuldigte zunächst ihre Tochter, weil sie sich um so hohe Gäste nicht kümmerte. Leider sei sie erkrankt, sei still und in sich gekehrt, habe Fieber und könne sich nicht vom Lager erheben. Chrodelind sei immer ein sehr empfindsames Geschöpf gewesen und nun habe sie wohl auch der Kummer über die lange Trennung von Vater und Ehemann niedergeworfen. Nicht einmal Herr Siegram mit seinem wundervollen Gesang habe sie aufheitern können. Aus Erfahrung wisse man zwar, dass solche Zustände vorüber gingen. Gebete und mütterliche Pflege würden Seele und Leib der jungen Frau wieder stärken. Im Augenblick aber müsse man vorsichtig sein. Um die Kranke zu schonen, habe man sie hier in der Kammer gebettet, da es draußen, im Schlafhaus der Familie, zu unruhig sei. Man ahnte ja noch nicht, dass man Besuch bekommen würde. Die Aufregung für die Geschwächte würde aber noch größer, wenn man hier nebenan im Saal, dem einzigen Raum des Anwesens, wo man so hohe Gäste unterbringen könne, ein Lager errichte.
Um es kurz zu machen: Die Zentgräfin bat uns, die Nacht bei ihrem Schwager Hauk zu verbringen.
„Nur ein kleines Meilchen von hier entfernt“, sagte er. „Ein Flohsprung!“
Natürlich waren wir einverstanden. Das Mahl war beendet, wir brachen auf. Unter einem Schwall von Entschuldigungen geleitete uns Frau Begga hinaus ans Tor. Bevor wir losritten, kam es noch zu einem Zwischenfall. Odo und ich mussten unsere Leute erst suchen, die es sich in einer der niedrigen, strohgedeckten Hütten beim Hofgesinde bequem gemacht hatten. Fulk und der fadendünne Rouhfaz hatten schon dralle Mägde im Arm. Sie murrten und wollten sich nicht erheben. Da zog Odo sein Kurzschwert und trieb sie unter Flüchen und Drohungen hinaus.
Der wahre Grund seines Zornesausbruchs war aber ein anderer. Als wir alle schon Abschied genommen hatten, war Herr Siegram im Saal zurückgeblieben. Er machte keine Anstalten, uns zu folgen. Wir hörten noch, wie er dem Diener befahl, ihm seine Decken und Felle zu bringen.
Es waren nicht mehr als tausend Doppelschritte zurückzulegen, um das Anwesen des Herrn Hauk zu erreichen. Unser Gastgeber ging voran, die Reiter führten ihre Tiere am Zügel. Noch einmal ein sanfter Hügel, ein Wäldchen … dann sahen wir im Mondlicht das Schattenbild einer burgartigen Anlage. Wir durchquerten nicht ohne Mühe das halb mit Steinen gefüllte Bett eines ausgetrockneten Bachs oder Grabens und folgten einer schadhaften Palisadenwand, bis sich ein Tor vor uns auftat. Ein paar Hörige des Hauk mit Kienfackeln und eine Meute bellender Hunde empfingen uns.
Im Unterschied zum Herrenhof wurde dieses Anwesen das „Castell“ genannt. Der Bruder des Zentgrafen hatte sich auf den Trümmern einer römischen Grenzfestung eingerichtet, die in dem halben Jahrtausend nachrömischer Zeit abwechselnd immer mal wieder bewohnt und verlassen worden war. Gegen den hellen Nachthimmel zeichnete sich ein nur über Leitern zugänglicher ehemaliger Wachturm ab, der nun als Herrenhaus diente. Von Stein und mit Ziegeln gedeckt waren auch der Saal und ein winziges Kirchlein. Die Palisadenwand wurde stellenweise von einer aus Quadern grob gefügten Mauer abgelöst. Alles schien in baufälligem Zustand zu sein. Früher war das Castell Teil eines Königsgutes gewesen. Zusammen mit ein paar Äckern, Wiesen und Wäldern aus ehemaligem Klosterbesitz war es dem verdienstvollen Königsvasallen Hauk als Benefiz überlassen worden.
Wir verlangten gleich nach unseren Nachtlagern und erhielten sie zugewiesen.
Hauk wollte Odo und mich als seine Ehrengäste oben im Turm unterbringen. Odo nahm die Einladung an. Ich zog es vor, bei den anderen unten im Saal zu bleiben. Es war dort Platz für die ganze Gesellschaft und warum sollte ich mich nicht in christlicher Demut zu den geringeren Leuten lagern? Der Jude und der Reliquienhändler schliefen allerdings draußen bei ihren Wagen, aus Sorge um die kostbare Fracht
Auf dem Boden des Saals war frisches Stroh aufgeschüttet. Wir entkleideten uns und legten uns nieder. Entgegen mönchischer Gepflogenheit lege ich nachts die Kutte ab, jedenfalls außerhalb von Klostermauern. Es scheint mir gesünder zu sein.
Bald schnarchte alles. Auch ich war rechtschaffen müde, hüllte mich in meine Decke und wollte einschlafen. Doch daran hinderte mich ein klägliches Stöhnen.