Aber was ließ sich mit alldem in einer Gerichtsversammlung anfangen? Es war so viel wert wie ein feuchter Wind. Ich spähte nach anderen Zeichen für die Unschuld des Sängers, die vielleicht handfester waren. Das Kreuz mit dem feurigen Stein kam mir wieder in den Sinn. Als Frau Begga am Abend noch einmal die Kammer betrat, hatte ich es zum letzten Mal aufblitzen sehen. Natürlich konnte, was schnell feststellbar wäre, eine der Frauen das kostbare Stück verwahrt haben. Es konnte jedoch auch gestohlen sein. Irgendeiner der rohen Gesellen, die sich am Abend vor dem Hause gedrängt hatten, konnte nachts, an dem schlafenden Gast vorbei, in die unverschlossene Kammer geschlichen sein und die Kranke geschändet, getötet und beraubt haben. Ich erinnerte mich jetzt auch wieder an den höhnischen Scherz der Torwächter. Frau Chrodelind war wohl keine Heilige …
Während ich diesen Gedanken nachhing, ging ich langsam zum Ufer des Flüsschens hinunter. Hier ließ ich mich auf einer Bank unter dem Blätterdach einer Esche nieder. Ein strahlender Frühlingstag zog herauf. Das Auge erfreute sich an den zarten Blüten der Apfelbäume. Schmetterlinge torkelten durch die Luft und junge Ziegen hüpften umher.
In der Nähe hatten ein paar Männer vom Gesinde des Herrenhofs damit begonnen, die schadhafte Brücke über das Flüsschen auszubessern. Zwei neue Bohlen, die schon bereit lagen, mussten eingezogen werden. Im Augenblick standen die Leute allerdings müßig beisammen. Sie führten heftige Reden und Gegenreden und es war nicht schwer zu erraten, worüber sie sich ereiferten.
Plötzlich stoben sie auseinander. Herr Hauk war erschienen – wie aus dem Boden gewachsen. Er schimpfte und fluchte erbärmlich.
„An die Arbeit, faules Gesindel! Habt euch lange genug ausgeruht! Verweichlicht und träge seid ihr! Mein Bruder hat euch gepäppelt, fett wie die Maden seid ihr geworden! Aber jetzt wird sich hier einiges ändern, jetzt werdet ihr wieder, was ihr gewesen seid – Hungerleider, Krautfresser! Die goldenen Zeiten sind vorbei, arbeiten oder verrecken sollt ihr …“
Er schlug mit den Fäusten zu und schwang sogar eine Peitsche. Plötzlich bemerkte er mich und besann sich. Er trat vor mich hin und sagte mit einem erkünstelten Lächeln: „Erschreckt bitte nicht! Mein Bruder verwöhnt dieses gottlose Pack. Deshalb nutze ich die Zeit seiner Abwesenheit, um hier ein bisschen Ordnung zu schaffen. Wenn Mommo zurückkehrt – möge der Herr Jesus seinen Schild über ihn halten – wird er ein Mustergut vorfinden. Das habe ich mir fest vorgenommen und ich gehe noch heute ans Werk, trotz des Schrecklichen, was passiert ist.“
Ich hatte inzwischen allen Grund, diesem Hauk nicht einmal die Warze am Kinn zu glauben. Sie mochte teuflisches Blendwerk sein. Er bat um die Erlaubnis, sich neben mir auf die Bank setzen zu dürfen.
„Ich sehe“, fuhr er fort, „Ihr habt Euch schon an der richtigen Stelle niedergelassen. Dies ist unser Gerichtsplatz. Wenn Herr Odo den Unhold fasst … werdet Ihr ihn dann gleich vor Euer Gericht ziehen und verurteilen?“
„Das steht noch nicht fest“, erwiderte ich ausweichend. „Wir müssen weiter, können uns nicht lange aufhalten.“
„Und wir haben den Kerl dann auf dem Hals“, seufzte Hauk. „Reich scheint er nicht zu sein, sonst würde er mit Gefolge reisen. Er wird das Wergeld vielleicht nicht aufbringen können. Wisst Ihr Näheres über ihn? Gibt es eine Familie, die für ihn einstehen kann?“
„Macht Euch darüber nur keine Gedanken. Noch ist kein Urteil gesprochen. Gibt es denn nur diesen einen Verdacht? Ich denke, es könnte auch jemand vom Gutshof oder vom Dorf …“
„Wo denkt Ihr hin!“, entgegnete er empört. „Hier gibt es niemanden, der so etwas fertig gebracht hätte. Alle liebten meine Brudertochter, besonders Frau Begga, die bei ihr Mutterstelle vertrat. Habt Ihr bemerkt, wie untröstlich sie ist?“
„Ich hoffe, sie hat sich inzwischen ein wenig beruhigt.“
„Sie ist jetzt gefasster. Die Mägde tragen schon Wasser hinein, damit sie die Tote waschen kann. Sie will es selbst tun, als letzten Beweis ihrer mütterlichen Liebe. Dem Himmel sei Dank, dass Mommo schon fort war. Es hätte den Ärmsten schwer getroffen.“
„War Frau Chrodelind seine einzige Tochter?“
„Sie war sogar sein einziges Kind.“
„Wer war ihre Mutter?“
„Die unglückliche Muthgard.“
„Die unglückliche?“
„Vier Jahre ist es jetzt her, dass sie da drüben, hinter der Brücke, ertrank … beim Wäschebesorgen, während des Frühjahrshochwassers. Mommo heiratete dann Begga, eine prächtige Frau, aber er hat keine Kinder mit ihr. Was sich natürlich noch ändern kann.“
„Und Frau Chrodelind … hatte sie schon geboren?“
„Auch nicht. Sie war ja erst seit einem halben Jahr mit Farold verheiratet.“
„So hat Herr Mommo keine Nachkommen. Falls ihm auf seiner Heerfahrt etwas zustieße …“
„Beschwört es nicht!“
„… wäret Ihr als nächster männlicher Verwandter sein einziger Erbe.“
„Gewiss. Aber das ist für mich unwichtig.“
„Wirklich?“
„Nun, seht doch, das meiste ist Benefiz. Der König kann es zurücknehmen. Was in den Truhen ist, erbt Begga. Und dann Mommos Schulden … er hat davon mehr als genug. Was bliebe da schon? Ein paar ausgelaugte Felder, ein kleines Stück Wald … und ein paar von den Tagedieben dort.“
Hauk sah mich mit einer so gequälten Miene an, als verdiente er schon für den Gedanken Mitleid, er könnte hier etwas erben.
Ich beschloss, den Heuchler aufs Glatteis zu führen.
„Oh ja, ich vergaß, dass Herr Mommo sogar genötigt war, Euch sein bestes Pferd zu überlassen. Nicht einmal Frau Begga wusste davon.“
„Sie sollte nichts über die wahre Lage erfahren“, sagte er ohne Verlegenheit. „Er hatte sich mit der Ausrüstung etwas verausgabt. Das ist nun mal seine Art, er will sich hervortun. Natürlich hofft er auf Kriegsbeute, um sich schadlos zu halten.“
„Und Euch scheint es auch nicht gerade glänzend zu gehen. Ihr musstet Impetus gleich auf den Markt bringen und sogar etwas unter Wert verkaufen. Habt Ihr auch Wiz verkauft? Oder seid Ihr auf ihm nach Haus geritten?“
Hauk sah mich einen Augenblick lang aufmerksam an, wobei seine kleinen schlauen Augen noch enger zusammenzurücken schienen.
„Wie kommt Ihr auf Wiz? Ihr habt Euch erkundigt?“
„Durch Zufall erfuhren wir, dass Herr Mommo ein zweites Pferd mitnahm, das Euch gehört. Es soll aber nicht mehr kampftüchtig sein, sondern nur noch zum Lastpferd taugen. Man sagte uns auch, Euer Bruder sei auf Impetus fortgeritten.“
Er atmete tief ein, so als müsste er die Mitteilung einsaugen. Doch dann entspannten sich seine Züge und er grinste so breit, dass er die letzten schwarzen Zahnstummel entblößte.
„Ah, jetzt verstehe ich, was Ihr meint! Ihr glaubt, ich hätte Euch gestern nicht ganz die Wahrheit gesagt. So ist es, aber ich tat es mit Rücksicht auf Herrn Odo. Ich fürchtete, das Gewissen könnte ihn plagen. Er sollte nicht glauben, einem fränkischen Krieger, der sich zum Heer begab, das Pferd weggenommen zu haben. Deshalb sagte ich in seiner Gegenwart, mein Bruder hätte mir Impetus schon vor seinem Aufbruch übergeben. Erfahrt also, wie es wirklich war, aber sagt es Herrn Odo nicht weiter. Ich stieß am Grabe des Ponz zu Mommo …“