„So wusstet Ihr doch schon am Abend, dass er dorthin wollte!“
„Nun ja, ich wusste es … und ich traf ihn dort. Man kommt auf verschiedenen Wegen dorthin, von hier und vom Castell aus. Es sind jedes Mal etwa drei Meilen. Wir haben sogar zusammen gebetet. Vorher hatte mir Mommo gesagt: ‚Gib mir die 360 Denare für alles und verkaufe das Pferd, ich bringe es nicht fertig!‘ Deshalb wollte ich dann auch nicht mehr als 360 nehmen, Ihr versteht, ich wollte mich nicht auf Kosten meines geliebten Bruders bereichern. Ich übergab ihm also den Geldbeutel, wir umarmten uns zum Abschied. Dann ritt ich auf Impetus zum Markt und er blieb zurück. Er wollte noch eine Weile allein sein und mit dem Heiligen Zwiesprache halten. Anschließend wollte er sich nach der Straße begeben, wo ihn unsere Leute erwarteten.“
„Und wie wollte er dorthin kommen?“
„Zu Pferde, wie sonst? Auf Wiz! Ein Schecke, nicht mehr ganz jung, aber schnell und stark. Wer hat Euch gesagt, er sei nicht kriegstauglich? Ein solches Pferd würde nicht mal der König verschmähen. Ich habe es Mommo geliehen, aus brüderlicherer Liebe. Und für einen kleinen Anteil am Kriegsgewinn.“
„Und nach diesen brüderlichen Geschäften am Eremitengrab habt Ihr Herrn Mommo nicht wiedergesehen.“
„So ist es“, erwiderte Hauk. „Als ich auf Impetus fortritt, kniete er am Eingang der Höhle. Ein ergreifendes Bild edler Frömmigkeit! Ich hoffe, dass er gesund ist und die Männer unserer Zent noch getroffen hat. Auch ich werde täglich auf die Knie fallen, damit Gott ihn uns erhält und heil zurückkehren lässt.“
Er schnaufte erschöpft. Das Lügen hatte ihn angestrengt. Ich war mit meiner Geduld am Ende.
„Und wo wollt Ihr das tun?“, fragte ich. „Wo wollt Ihr vor Gott auf die Knie fallen? In Eurer Kirche vielleicht? Seht Euch vor, Ihr werdet Euch dort mit Hühnerdreck beschmutzen.“
Ich stand auf und wollte gehen.
„Wartet!“, rief er, sprang ebenfalls auf und stellte sich mir in den Weg.
„Ihr wart im Castell in der Kirche? Zugegeben, das ist ein Missstand, sehr ärgerlich. Verantwortlich ist der Priester Serapius, den Ihr ja kennen gelernt habt. Er ist ein Höriger meines Bruders. Ich habe ihn schon so oft ermahnt, aber er kümmert sich nur um die hiesige Kirche. Tut so, als ginge ihn die im Castell nichts an. Da seht ihr, wie nötig es ist, sie immer wieder an ihre Pflicht zu erinnern. Auspeitschen lasse ich den Kerl! Soll er den Hühnerdreck auflecken!“
„Seine Zunge soll Gottes Wort verkünden!“, sagte ich, angeekelt von dieser feigen Erklärung. „Ihr selbst werdet dafür sorgen, dass Euer Gotteshaus in einen würdigen Zustand versetzt wird!“
„Ich schwöre Euch, es wird geschehen!“, stammelte er beflissen. „Noch heute! Gleich jetzt! Ich bitte Euch nur, davon keine Meldung zu machen!“
„Dazu sind wir aber verpflichtet. Der König will wissen, wie sich seine Vasallen aufführen, in welchem Zustand sich seine Benefize befinden. Besonders aber die Kirchen. Ich werde mich nun auch hier etwas umsehen, um einen Eindruck zu gewinnen. Hier sieht es wohl etwas freundlicher aus.“
Abermals wollte ich fortgehen.
„So wartet doch!“ Er hinkte aufgeregt um mich herum und trat mir fast auf die Füße. „Gewiss, bei mir steht nicht alles zum Besten. Aber warum? Ich will es Euch sagen. Ich hab keine Zeit, mich darum zu kümmern. Weil ich fast nur noch hier bin. Was Ihr hier seht … es ist mein Werk. Mein Bruder, Gott schütze ihn, ist ein Trinker, er liebt die Frauen, die Jagd, die Tafel. Um die Wirtschaft kümmert er sich wenig, nicht zu reden von seinen Pflichten als Zentgraf. Er vernachlässigt sie sträflich! Dass er überhaupt noch Gericht hält, dem König die Abgaben eintreibt, den Heerbann anführt … ich schwöre Euch, es ist mein Verdienst! Auch das der Frau Begga. Sie ist eine Frau, wie man sie nicht zweimal findet. Leider ist er ihrer nicht würdig.“
„Und Ihr? Ihr wäret würdig?“, fragte ich.
Hauk starrte mich an. „Ich? Wie kommt Ihr darauf? Das wollte ich damit nicht gesagt haben.“
„Aber Ihr würdet gern Zentgraf sein.“
„Nur wenn mein Bruder, den der gnädige Gott uns erhalten möge … „
„Nur wenn er nicht wiederkäme. Das meint Ihr doch.“
„Damit … damit rechne ich nicht … der Himmel bewahre mich davor! Trotz seiner Fehler … er ist tapfer, ein Held! Er wird mit Ruhm bedeckt heimkehren …“
Jetzt standen ihm Schweißperlen auf der Stirn. Ich beschloss, ihn an der Gurgel zu packen. „Und wenn ich mich nun trotz allem, was mir bei Euch missfällt, zu der Meinung durchringen könnte“, sagte ich, die Worte zum Schein gedankenvoll dehnend, „dass Ihr der bessere Zentgraf wäret?“
„Das könntet Ihr?“
In den Äuglein des Hauk, die eben noch erschrocken und unterwürfig dreingeschaut hatten, blitzte auf einmal wieder die Schläue auf. Einen Augenblick zögerte er noch. Aber dann ging auch er aufs Ganze.
„Dreißig Solidi?“, fragte er lauernd.
Ich lächelte abschätzig.
„Sechzig? Achtzig? Hundert?“
„Schon besser. Aber wo wollt Ihr die hernehmen? Verfügt Ihr schon über den Schatz Eures Bruders?“
Wieder wechselte die Miene des Hauk ihren Ausdruck. Sein breites, fettes Gesicht war ein Buch, man musste nur darin zu lesen verstehen.
Jetzt las ich Angst.
Das genügte mir vorerst. Ich ließ ihn stehen und damit er mir nicht weiter folgte, zog ich meine Sandalen aus, raffte die Kutte und watete ein paar Schritte in das flache Uferwasser des Flüsschens hinein. Ich war ja noch nicht einmal zu meiner Morgenwäsche gekommen.
5. Kapitel
Die Sonne stand im Zenit, als Herr Siegram gebracht wurde. Ich war gerade von meinem Gang über den Herrenhof und durch das Dorf zurückgekehrt, als sie durch das Zangentor einritten: Odo an der Spitze, dann Siegram und der Junge, zuletzt die beiden Männer unseres Wachtrupps. Am Eingang des Saalhauses stand hoch aufgerichtet Frau Begga, von weiten Gewändern und einem Schleier umwallt, einem jener weiblichen Trauermonumente namens Niobe oder Hekate gleich, von denen uns die heidnischen Autoren berichten. Auch die knorrigen Alten waren dort wieder aufgereiht und starrten den Reitern böse entgegen. Odo hielt an der Treppe, an deren Fuß ich wartete, warf mir einen finsteren Blick zu und sprang vom Pferd. Er gab Siegram ein Zeichen, ebenfalls abzusitzen und ihm in den Saal zu folgen.
Die Ermordete war aufgebahrt, wie es Brauch ist, nachdem sie gewaschen und mit geweihtem Wasser besprengt worden war. Eine Bank, über die ein Bärenfell gebreitet war, diente als Totenbett. Ringsum waren Kerzen aufgestellt. Frau Chrodelind war mit einem weißen, bestickten Hemd bekleidet und bis zum Gürtel mit einem dunklen Überwurf zugedeckt, unter dem sich der zarte Körper kaum abzeichnete. Über den Hals war ein Schleiertuch gebreitet. Sorgsam geordnet und geflochten umgab das kupferrote Haar das bleiche, spitze Gesicht mit den nunmehr geschlossenen Augen. Auf der Brust der Toten lag auch jetzt mein kleines Bronzekreuz.
Der Priester, jener Hörige namens Serapius, und ein paar alte Frauen vom Gesinde, die mit ihm gesungen und gebetet hatten, verstummten und zogen sich in eine Ecke des Saals zurück. Herr Siegram, den alle anstarrten (ich nicht ausgenommen), trat zögernd näher. Man erwartet ja, dass ein Frevler, der vor sein Opfer geführt wird, sich verrät und unter der Last seiner Schuld zusammenbricht. Natürlich hoffte ich, der Sänger, den ich für unschuldig hielt, würde die Fassung bewahren.
Ich wurde enttäuscht. Es war nicht nur der heitere Stolz gewichen, der seine Züge sonst so unwiderstehlich gemacht hatte. Er schien auch zutiefst verwirrt zu sein. Kaum hatte er die Tote erblickt, stürzten ihm Tränen aus den Augen. Er schlug die Hände vor das Gesicht und stand lange zitternd auf einem Fleck.