„Hast du das gesehen?“, sagte er und nahm mir Impetus wieder ab, den ich so lange am Zügel gehalten hatte. „So könnte es passiert sein.“
„Was?“
„So könnte die Riesin sich der früheren Zentgräfin entledigt haben.“
„Du glaubst die Geschichte?“
„Es war ein Kinderspiel.“
„Vielleicht sollten wir nichts auf Weibergezänk geben.“
„Immerhin liegt eine der Zänkerinnen dort aufgebahrt.“
„Und was hältst du nun von von meinem Vorschlag?“, fragte ich unwirsch. „Hast du ihn überhaupt zur Kenntnis genommen?“
Odo befingerte seine Nasenspitze und blickte mich einen Augenblick lang tiefsinnig an.
„Dein Vorschlag ist ausgezeichnet. Überhaupt ist deine Deutung des Falles bemerkenswert. Nur hast du vielleicht eine Kleinigkeit übersehen.“
„Und welche?“
„Dass es unter den menschlichen Wesen, die die Welt bevölkern, nicht nur solche wie uns beide gibt: die Schnurrbärtigen und die Tonsurierten. Sondern auch noch andere, zum Beispiel so drollige Geschöpfe mit glatten Wangen wie die da unten.“
„Lass uns ernsthaft reden!“
„Siehst du. Nur eine Welt der Ämter, Benefize, Kriege, Heiligengräber ist für dich eine ernsthafte Welt. Wir schreiben an die vorgesetzte Behörde und man wird die Sache in Ordnung bringen. Der Mörder ist gestraft, weil der Neid weiter an seiner schwarzen Seele frisst. Er bekommt kein Benefiz und kein Amt. Kann man ihn schlimmer strafen? Einen von uns, den Schnurrbärtigen und Tonsurierten, wohl kaum.“
„Was, zum Teufel, willst du damit sagen?“
„Eure Heiligkeit fluchen?“
„Hast du einen anderen Verdacht? Sprich! Hängt er vielleicht mir diesem Unglücksfall zusammen? Dem Tod der früheren Zentgräfin?“
„Um mich dazu zu äußern“, sagte Odo bedächtig, „müsste ich die jetzige besser kennen lernen. Aber sie ist zu sehr mit ihrer Trauer beschäftigt. Sie könnte mich für zudringlich halten und missverstehen. Einer so erhabenen Riesendame nähert man sich auch nicht auf die übliche Art, frontal und drauf zu. Sie ist eine Burg mit Türmen, Vorbauten, Wällen, rückwärtigen Befestigungen, schönen An- und Aussichten, Falltüren, geheimen Gängen und finsteren Verliesen. In dieser Beziehung kann man von unserem Alten, dem ruhmreichen König Karl, etwas lernen. Er geht bedeutende strategische Ziele niemals direkt an, sondern immer auf Umwegen, indem er seine Kräfte teilt und allerlei Umgehungsbewegungen ausführt, bis der Augenblick zum Zuschlagen da ist. Allerdings nimmt er sich dafür viel Zeit und die haben wir nicht. Wir müssen uns wohl damit abfinden, dass das meiste, was hier getan werden müsste, ungetan bleiben wird. Aber schreib nur an den Pfalzgrafen. Ein Fehler kann es nicht sein …“
Unterdessen hatten wir die Schänke erreicht, ein strohgedecktes Bauwerk von Holz und Lehm, ein wenig größer und länger als die übrigen Hütten. Wir banden Impetus und Grisel an Bäume und traten ein. Der Herd, Fässer, ein Regal mit Krügen und Bechern, ein grober Tisch und eine lange Bank bildeten die bescheidene Ausstattung. Ein paar Bauern, die herum hockten, erhoben sich gleich, um sich unter eckigen Verbeugungen aus dem Staube zu machen. Das war ihnen wohl für den Fall befohlen, dass ein Adeliger die Schänke betrat.
Eine Frau zwischen Jugend und Alter, doch etwas mehr zum Alter hinneigend, mit einem breiten slawischen Gesicht, im einfachen, aber sauberen Kittel und einer klirrenden Sammlung von Schlüsseln, Messern und Kochlöffeln am Gürtel, schlurfte heran und fragte nach unserm Begehr. Ich bestellte klares Wasser, Odo erkundigte sich nach Branntwein.
„So etwas haben wir hier nicht“, sagte die Frau, das fränkische Diutisk mit hartem Akzent aussprechend. „Hier ist kein Kloster, edler Herr. Ich habe Wein. Ihr könnt auch Honig dazu bekommen.“
„Ist der Wein gut gekühlt?“
„Ihr werdet zufrieden sein. Witzlaw!“, rief sie.
Ein Junge von etwa fünfzehn Jahren erschien in der Tür. Er war nur mit einer Hose bekleidet. Von seiner rechten Schulter hing statt des Arms ein kurzer Stumpf.
„Bring den Wein, Witzlaw! Aber den guten!“
Der Junge verschwand.
„Wie ist ihm das zugestoßen?“, fragte ich die Frau.
„Das waren die Sachsen, Vater. Eines Nachts überfielen sie uns und brannten die Hütte nieder. Er hielt sie für die Gefolgschaft des Bösen und streckte ihnen ein Kreuz entgegen. Da schlugen sie ihm den Arm ab.“
„Bist du Witwe?“, fragte Odo, der die Frau wohlgefällig betrachtete.
„Mein Mann kam in jener Nacht um. Er versuchte zu retten, was verloren war.“
„Wie heißt du?“
„Petrissa.“
„Und wie bist du hierher gekommen?
„Wie schon! Mit einem Sklaventreck.“
„Hatte dein Mann dich dem Händler abgekauft?“
„Nein, Herr Mommo kaufte mich, er brauchte Leute. Es hatte gerade mal wieder eine Hungersnot gegeben und es waren ihm viele weggestorben. Er hat mich dann mit einem seiner Behausten verheiratet. Wisst Ihr, wieviel er für mich bezahlt hat? Fünfundzwanzig Solidi!“
Sie lachte kurz auf, mit naivem Stolz, und man sah dabei, eine große Seltenheit, dass ihr weder oben noch unten ein einziger Zahn fehlte.
„Ich hätte dreißig für dich gegeben!“, sagte Odo großspurig.
Jetzt lachten sie beide und ich begriff schon, was dabei schließlich herauskommen würde
Der Junge schleppte einen halb vollen Krug herbei. Petrissa holte ein Töpfchen mit Honig und einen Becher und setzte sich unbefangen neben Odo auf die Bank, um ihm einzuschenken und dem verwöhnten Westfranken unseren herben Ostfrankenwein zu süßen. Mir brachte der Junge eine Kanne frischen, kühlen Wassers, ein Labsal bei der Mittagshitze.
„Und was geschah nach dem Brand?“, fragte ich. „Habt ihr ein Unterkommen gefunden … du und dein Sohn?“
„Zuerst auf dem Herrenhof. Ich hab dort alles gemacht. Backen, kochen … Solange Frau Muthgard lebte, ging das gut. Aber als sie dann die Herrin wurde, die Aquitanierin …“
„Wer ist das? Frau Begga?“, fragte Odo.
„Das ist nicht ihr richtiger Name. Sie heißt anders, ich hab vergessen wie. Sie hat mich auspeitschen lassen und vom Hof gejagt.“
Petrissas Augen verengten sich zu Schlitzen, aus denen Hass funkelte.
„Warum tat sie das? Hast du Herrn Mommo zu gut gefallen?“
„Und wenn?“, fragte sie, indem sie Odo herausfordernd anblickte.
„Und was geschah dann?“
„Er hat mich hierher in die Schänke gebracht, sie gehört ihm ja. Erst half ich dem alten Gislevert. Der starb dann und nun mache ich es allein mit dem Jungen.“
„Und hier lässt dich Frau Begga in Ruhe …“
Sie seufzte, schwieg aber.
„Hast du gehört, Petrissa, was heute Nacht auf dem Herrenhof passiert ist?“, fragte ich.
„Hab ich.“
„Du kanntest doch sicher Frau Chrodelind gut. Wie war sie?“
„Wie sie war? Wie ihre Mutter. Sie sang, sie war lustig. Manchmal ein bisschen boshaft, aber nicht grausam. Sie sprach mit jedem. Wir waren nicht Dreck für sie, wir Unfreien. Dagegen die Aquitanierin … Dabei weiß sie nicht einmal, wo ihre Familie lebt. Vielleicht ist sie gar keine Edle, sondern nur eine wie wir.“
Wieder verengten sich Petrissas Augen und die Haut über ihren kräftigen Wangenknochen schien aufzuglühen. Odo und ich tauschten einen Blick.
„War sie schon hier, als du ankamst?“, fragte Odo.
„Nein, sie kam später. Viel später.“
„Allein?“
„Wieso denn allein? Warum wollt Ihr das wissen?“ Petrissa musterte uns argwöhnisch. „Wer seid Ihr überhaupt? Etwa die … diese Königsboten?“
„Nein, wir sind einfache Reisende. Er will nach Fulda, ich noch weiter.“