Das Kyrie endete. Siegram schwieg. Ich war froh, dass er nicht von neuem begann, trotz meiner eigenen Ergriffenheit. Frau Begga wischte sich rasch die Tränen vom Gesicht und beruhigte sich. Sie schien sich jetzt selbst bewusst zu sein, etwas preisgegeben zu haben, was sie lieber verborgen hätte. Sie warf verstohlene Blicke um sich, von denen der längste mich traf. Ich bemerkte es, obwohl ich so tat, als sei ich in meine Andacht vertieft.
Niemand wagte nun, seine Stimme zu erheben. Wer wollte jetzt mit dem erbärmlichen Psalmodieren fortfahren? So hob ich zum zweiten Mal an, um ein schlichtes Gebet sprechen. Aber da zog mich jemand an der Kutte. Ich blickte mich um. Eine hakennasige Magd gab mir heftige Zeichen, ich solle mitkommen. Ich stieg hinter ihr die Freitreppe hinunter. Die Alte deutete auf eine plumpe Gestalt, die vor einem der kleinen Fenster des Untergeschosses im Grase kauerte. Ich konnte im Dunkeln nicht viel erkennen. War sie zusammengebrochen? Betete sie?
Ich ging hin und berührte die Gestalt. Sie hob heftig den Kopf und ich blickte in ein grobes, verwirrtes Gesicht. Es war die Magd Celsa. Als sie mich erkannte, fuhr sie erschrocken zurück. Sie streckte sogar schützend die Hände vor.
Ich sprach sie mit sanfter Stimme an. „Was hast du, Celsa? Warum fürchtest du dich vor mir?“
„Ihr seid es?“, stammelte sie.
„Warum liegst du hier auf dem Boden?“
„Ich bete. Damit Ihr ihn nicht ans Kreuz schlagt!“
„Wen?“
„Ihn!“
Sie deutete nach den Fenstern und ich begriff, dass sie den meinte, der dahinter saß. Den Sänger.
„Steh auf!“, sagte ich. „Beruhige dich. So etwas wird nicht geschehen. Wie kommst du nur darauf?“
Ich wollte ihr die Hand geben, um ihr beim Aufstehen zu helfen. Doch sie duckte sich, als griffe nach ihr eine Geierkralle. Dann raffte sie sich selbst auf, trat ein paar Schritte zurück und stieß hervor: „Aber ich will nicht, dass Ihr es tut! Lieber sage ich Euch alles!“
„Was willst du mir sagen?“
„Was Ihr wissen wollt. Alles. Ich werde ihn retten!“
Es lag nahe, dass Siegram auch dieses weibliche Wesen mit seinem wundervollen Kyrie verzaubert hatte. Warum sollte ich diese Wirkung nicht zu seinen Gunsten nutzen? Da Rouhfaz bei Celsa nichts erreicht hatte …
Inzwischen hatte sich ein Kreis Neugieriger um uns geschart. Die Alte, die mich geholt hatte, stieß eine andere an und zischte: „Soll ich dir sagen, wer das ist … der da drinnen?“ Das Weitere verstand ich nicht. Die andere schrie spitz auf und schlug die Hände zusammen.
„Folge mir!“, sagte ich zu Celsa und schritt auf den Baum zu, an dem ich Grisel festgebunden hatte. „Du willst mir also erzählen, was du weißt. So viel ist mir bereits bekannt: Frau Begga und Frau Chrodelind stritten sich. Hast du alles gehört?“
„Ja, alles.“
„Stritten die beiden Frauen oft?“
„Ziemlich oft.“
„Hassten sie sich?“
Celsa stapfte hinter mir her. Jetzt schwieg sie. Ich drehte mich halb zu ihr um und wiederholte die Frage. Sie zog den kleinen Kopf zwischen die massigen Schultern und sagte schüchtern: „Weiß ich nicht.“
„Warum stritten sie gestern?“
„Wegen … seinetwegen.“
„Wann war das? Als er im Fluss sein Bad nahm?“
„Ja.“
„Und du konntest hören, was sie sprachen? Wie kam das?“
„Ich sollte ein Huhn rupfen.“
„Und?“
„Da saß ich hinter dem Seli. An der Wand, wo die Kammern sind.“
„Wer von ihnen fing an? Frau Begga?“
„Nein, die junge Herrin. Sie sagte: ‚Putzt du dich für den Fremden‘?‘“
„Und weiter?“
„‘Hast du es so eilig mit einem Liebhaber, kaum dass mein Vater fort ist?‘“
„Sie glaubte also, Frau Begga wollte den Fremden …“
„Wie konnte sie wissen, wer er ist!“, rief Celsa.
Ich gab nicht darauf Acht, sondern fragte: „Und was antwortete die Herrin?“
„Sie antwortete: ‚Es gehört sich, dass man sich schmückt, wenn ein Gast wie dieser kommt.‘ Da sagte Frau Chrodelind: ‚Aber nicht mit gestohlenem Schmuck!‘“
„Wie war das gemeint? Wem sollte der Schmuck gestohlen sein, den Frau Begga trug? Den Leuten vom Dorf?“
„Ich weiß nicht. Ich glaube, sie meinte, ihrer Mutter, der Frau Muthgard.“
„Und dann?“
„Dann schlug Frau Begga die junge Herrin.“
„Das hast du gehört?“
„Die Schläge, ja, und die Schreie.“
„Hat sie sie auch sonst oft geschlagen?“
„Nicht oft. Schon lange nicht mehr.“
„Und die junge Herrin? Was tat sie?“
„Sie schrie: ‚Diebin! Mörderin!‘“
„Mörderin?“
„Weil Frau Muthgard ertrunken ist und Frau Chrodelind …“
„… glaubte, Frau Begga sei daran schuld.“
„Ja.“
„Und ging der Streit weiter?“
„Frau Chrodelind sagte: ‚Ich will mich auch schmücken. Mit den Sachen, die mir gehören, von meiner Mutter.‘ Und sie wollte die Schlüssel.“
„Welche Schlüssel?“
„Zu der hinteren Kammer und zu den Truhen. Aber die Herrin gab sie nicht her. Da schrie Frau Chrodelind wieder: ‚Diebin! Mörderin!‘ Und sie wollte alles dem Fremden erzählen. Da hörte ich, wie die Herrin die Tür aufschloss.“
„Zu der hinteren Kammer. Der Schatzkammer.“
„Ja.“
Ich blieb stehen und drehte mich heftig um. Celsa, die mir dichtauf gefolgt war, wich wieder ein paar Schritte zurück.
„Bleib hier!“, befahl Lupus. „Und erzähle weiter! Was geschah nun in dieser Kammer? Was bekamst du davon mit?“
Sie blickte hinunter auf ihre bloßen Füße und holte tief Luft. Dann sagte sie leise, hastig und ohne die Stimme zu heben: „Jetzt konnte ich nicht mehr alles hören. Die junge Herrin probierte wohl Kleider an. Da rief die Herrin: ‚Das nicht!‘ Und die junge Herrin: ‚Warum nicht? Du kannst es doch nicht tragen, fette Gans. Und jetzt will ich noch Schmuck!‘ Dann stritten sie wieder leise. Auf einmal schrie die junge Herrin: ‚Das Kreuz! Ich will das Kreuz mit dem Stein!‘ – ‚Das Kreuz?‘, rief die Herrin. ‚Willst du die Heilige spielen, Hure, die es mit allen Burschen im Dorf hatte?‘ – ‚Ich will es!‘, rief die junge Herrin noch einmal. Da lachte die Herrin ganz fürchterlich auf und schrie: ‚Dann hol es dir doch! Da unten ist es! Fass tief hinein!‘“
„Und dann? Und dann?“, fragte ich gespannt.
Erst jetzt hob Celsa wieder den Kopf. Sie blickte nach links und nach rechts, als ob sie sich vergewissern wollte, dass niemand zuhörte.
„Nichts!“, sagte sie und starrte mich an.
„Nichts?“
„Auf einmal war nichts mehr zu hören. Es wurde kein Wort mehr gesprochen. Ich habe mich erst nur gewundert. Da machen sie solchen Lärm und ganz plötzlich …“
„Und etwas anderes hast du nicht gehört? Schreie, Schläge, Gepolter?“
„Nein.“
„Wie lange hast du dort noch gesessen?“
„Noch eine Weile. Bis ich fertig war mit dem Huhn.“
„Und wann hast du die junge Herrin wiedergesehen?“
„Erst abends. Als sie auf dem Ruhebett lag. Ich musste dem Fremden Wein bringen, da sah ich sie. Vorher durfte ich ja auch nicht zu ihr.“
„Das hatte Frau Begga verboten.“
„Ja.“
„Durftest du abends in ihre Nähe?“
„Nein.“
„Wie alle anderen sahst du sie also nur von weitem.“
„So hab ich sie nie erlebt. Nein, nie! So stumm, so still … das war nicht ihre Art!“
Ich wusste genug. Wir waren bei Grisel angekommen und ich band ihn los. Vom Saalhaus her kamen wieder dünne, abgerissene Klagetöne. Ich konnte mich nicht entschließen, noch einmal zurück zu gehen, und bestieg den Esel.