Die Leiter zu dem früheren römischen Wachturm war hinauf gezogen. Nichts rührte sich oben. Der blonde Bursche stellte den Karren unter die Einstiegsöffnung, blieb stehen und sah sich nach Odo um. Der lehnte am Pfosten der Kirchentür.
„Hauk!“, sagte er mit lauter Stimme. „Hauk, hört Ihr mich? Wir entbieten Euch unseren Morgengruß! Erhebt Euch! Wollt Ihr so unhöflich sein und uns warten lassen?“
Es dauerte eine Weile, bis der runde Kahlkopf oben auftauchte. Hauk blinzelte, glotzte herab auf die Ansammlung vor dem Turm und brachte zunächst kein Wort hervor. Erst als er den Karren mit dem Verletzten bemerkte, erschrak er und sagte: „Blado!“
„Blado und Frambert!“, bestätigte Odo. „Die Männer, die Euch den Nachschub verschafften. Für das abartige Vergnügen, Wildtiere im geschlossenen Gehege abzuschießen. Natürlich aus Wäldern, die Euch nicht gehören!“
„Was? Was sagt Ihr da?“, stieß Hauk hervor. „Ich weiß nicht, wovon Ihr redet …“
„Das wisst Ihr sehr gut! Sie hatten ja von Euch den Auftrag, bei Euern Nachbarn zu wildern.“
„Das ist nicht wahr! Ich habe nie …“
„Wir überraschten sie drei Meilen von hier entfernt. Eure eigenen Wälder reichen nicht weiter als eine Meile.“
„Wenn das stimmt, Hauk“, sagte Graf Hrotbert in scharfem Ton, „so habt ihr uns mit gestohlenem Wildbret bewirtet. Ihr wisst wohl, das kann Euch teuer zu stehen kommen!“
„Aber das ist ein Irrtum … ein Irrtum …“
Hauks Blicke huschten von einem zum anderen.
„Wollt Ihr nicht zu uns herunter kommen?“, rief Odo.
„Warum denn? Es ist noch früh. Ihr seht ja auch, ich bin noch nicht fertig …“
„Kleidet Euch an! Wir warten auf Euch!“
Hauk verschwand vom Einstieg des Turms.
Der Graf ließ sich Tunika, Mantel und Stiefel bringen und steckte seine Waffen zu sich. Nach und nach traten alle seine Gefolgsleute aus dem Saalhaus. Hinter Bäumen, Hecken, und windschiefen Hütten duckte sich das Hofgesinde des Castells. Auch die Wachmänner hatten das Tor verlassen und hinter einem Haufen zerbrochener Ackergeräte einen Beobachtungsposten bezogen.
„Ihr nehmt Euch viel Zeit!“, rief Odo ungeduldig. „Wir können natürlich auch alle hinaufkommen!“
Hauk erschien wieder, diesmal in voller Größe. Ein Schwert und ein Beil am Gürtel, den Bauch vorgestreckt, stand er breitbeinig da und spielte den Unerschrockenen.
„Was wollt Ihr von mir? Was wollt Ihr wirklich? Ist es gute Sitte, dass Gäste den Wirt aus dem Schlaf holen? Ihr kommt doch nicht wegen der Kerle da. Sie haben Euch angelogen, ich lasse sie auspeitschen!“
„Das werdet Ihr unterlassen!“, sagte Odo. „Was mit ihnen geschieht, bestimmen wir. Nun, wollt Ihr endlich herunterkommen?“
„Ich verstehe Euch hier oben sehr gut. Ich sehe und höre alles!“
„Wenn das so ist, dann seht genau hin. Ich werde Euch jetzt etwas zeigen!“
Er gab dem blonden Burschen ein Zeichen. Der ließ die Deichsel des Karrens fahren, sie stieß hart auf den Boden. Der Verletzte jammerte laut.
Der Bursche ergriff den zusammengerollten Teppich und trug ihn zu dem Punkt in unserer Mitte, auf den Odo mit ausgestrecktem Arm hinzeigte. Hier rollte er ihn aus. Der Teppich war, wie erwähnt, stark verschmutzt. Nur an einer Ecke war unter dem getrockneten Schlamm noch das farbige, kunstvoll gewebte Muster zu erkennen. Und diese Ecke war beschädigt, ein kleines Stück fehlte.
Der Fetzen hängt an dem Nagel in der Kammer, drüben auf dem Salhof, dachte ich sofort.
„Kennt Ihr den Teppich, Hauk?“, fragte Odo.
„Woher soll ich ihn kennen? Ich kümmere mich nicht um dreckiges Zeug, das jemand verloren hat.“
„Ihr selber wart es, der diesen Teppich in einem Sumpfloch verlor. In der Nähe des Eremitengrabes.“
„Ich habe nie einen Teppich besessen. Wie käme ich also dazu?“
„Ihr habt ihn Euch ausgeliehen, als Verpackung. Um einen Leichnam darin einzuwickeln. Die Verpackung habt Ihr dann nicht zurückgegeben. Aber Frau Begga hat das wohl auch nicht verlangt.“
Hauk ließ ein hohles Lachen hören.
„Ihr seid nicht bei Sinnen. Wovon redet Ihr?“
„Natürlich von Euerm Bruder, dem Zentgrafen. Er war zu betrunken, um selber zum Grab des heiligen Ponz zu reiten. Als guter Christ habt Ihr das für ihn übernommen. Damit der Heilige und vor allem die Torwachen den frommen Betrug nicht bemerkten, habt Ihr sogar sein Kettenhemd angelegt und seinen Helm aufgesetzt. Und dann seid Ihr auf Impetus losgeritten. Doch Herr Mommo musste ja auch an sein Ziel. Also habt Ihr ihn in diesen Teppich gewickelt, gut verschnürt und auf einem Lastpferd mit Euch genommen. Das war sicher für ihn recht unbequem und als Lebender hätte er das nicht mitgemacht. Doch ihr wart klug und fandet die Lösung. Ihr triebt ihm vorher, als er schlief, einen Pfeil durch den Hals!“
„Das war nicht ich – das war sie!“, schrie Hauk.
„Frau Begga?“
„Sie war es! Ich hätte doch nicht meinen Bruder …“
Mitten im Satz hielt er inne und riss erschrocken die Augen auf. Dann versetzte er sich einen Faustschlag auf den Mund, als wollte er ihn mit Gewalt verschließen. Dabei wurde sein Kopf zurückgerissen und das brachte auch den Körper ins Wanken. Hauk taumelte ein paar Schritte nach hinten und war wieder verschwunden.
„Ich wusste es ja“, sagte Odo mit zufriedenem Lächeln. „Diese heilige Handlung musste sie selbst zelebrieren. Der Kerl da oben war nur für die niederen Dienste gut. Zum Glück hat er auch dabei noch versagt, sonst wäre ich nicht zu meinem Pferd gekommen.“
„Und ich begehe jetzt eine Sünde – die des Neides“, sagte ich anerkennend. „Gott verzeihe sie mir! Und du verzeih mir meine Rechthaberei.“
„Drei Paternoster und fünf Psalmen, mein Sohn“, sagte Odo, „falls wir damit anfangen wollen, unsere Irrtümer bußpflichtig zu machen.“
Das fanden wir beide erheiternd und unser Gelächter mischte sich mit dem Gejammer des alten Wilderers, der von ein paar herbei gewinkten Knechten vom Karren gehoben und zu einer Hütte getragen wurde. Dabei löste sich der Stofffetzen, der als Verband diente, und die Wunde öffnete sich wieder. Eine Greisin beugte sich über das Bein, bewegte die Arme wie Vogelschwingen und murmelte einen Blutsegen: „Bei den heiligen fünf Wunden, heile auch du! Stehe, Blut, stehe, komm zur Ruh!“
Inzwischen hatte sich Graf Hrotbert den blonden Burschen vorgenommen. Er unterzog ihn einem Verhör. In der demütigen Haltung des Hoffnungslosen gab der Missetäter Auskunft.
„Arme Kerle, die beiden“, sagte Odo. „Vater und Sohn mit großen Familien. Vor ein paar Jahren noch frei auf drei Hufen, dann Missernten, Schulden, Hunger, Wilddiebereien, dafür Verurteilung durch Mommo, unbezahlbares Bußgeld, Verlust der drei Hufe, Verlust der Freiheit, als Hörige zu Hauk, der sie für seine eigenen Diebereien missbraucht … und nun? Jetzt kommt noch die böse Geschichte mit dem Toten dazu. Ich gebe nichts mehr für ihre Hälse.“
„Sie hatten also das Pferd gestohlen.“
„Der Bursche dort war es. Aber der Alte hat mitgemacht bei der Sache mit Mommo. Du hattest Recht, sie wollten Hauk einen Schreck einjagen und zeigen, dass sie Bescheid wussten. Und ihn damit an ein Versprechen erinnern. Er wollte ihnen die Freiheit zurückgeben und einen Teil ihres Bodens, wenn sie für ihn ein Jahr lang diese gefährliche Drecksarbeit machten. Das Jahr ist längst um, aber du siehst ja … er ist vergesslich. Er konnte sich nicht mal an den Teppich erinnern.“
„Und wie hast du den nun gefunden?“
„Den Teppich?“ Odo gähnte. Wir hatten uns auf dem als Bank dienenden Baumstamm niedergelassen. „Das erzähle ich dir später. Jetzt wäre es gut, sich auszustrecken.“