„Warte damit noch ein bisschen. Es geht um den Mord an einem Zentgrafen. Unsere Aufgabe ist es, Anklage zu erheben, also müssen wir Hauk verhören. Ich kann es allein tun oder mit Hrotbert. Aber sage mir alles, was du weißt.“
„Was gibt es da noch viel zu sagen? Seit ich mir in den Kopf gesetzt hatte, dass es hier um einen Kampf der Riesen und Götter ging, wobei zur Abwechslung die Götter unterlagen, war ich fest überzeugt, die Riesin hatte die Heldenarbeit selbst verrichtet und ihren Göttergemahl mit eigenen Händen ins Totenreich geschickt. Dazu passte alles: das Trinkgelage am Abend, der plötzliche Aufbruch mitten in der Nacht, das zweite Pferd. Und natürlich der Awarenpfeil. Von der Sorte haben hier alle so viele im Hause, dass die Frauen sie als Haarnadeln oder zum Umrühren der Suppe verwenden können. Jedenfalls war es klar, dass damit ein Überfall vorgetäuscht werden sollte. Du hast ja gesehen, dass sich an Mommos Gürtel die durchschnittenen Riemen von Geldbeuteln fanden. Alles Täuschung.“
„In dem Punkt hatte ich also richtig vermutet.“
„Vollkommen. Und man hatte auch nichts dagegen, dass Mommo gefunden wurde.“
„Vor einem Heiligengrab.“
„Beim Beten gemeuchelt. Fast ein Märtyrer. Natürlich musste er ausgeraubt sein. Waffen, Brünne, Pferde … alles, was wertvoll war, musste verschwinden. Dies war der Auftrag für den treuen Vasallen der Mörderin, der sich da oben im Turm versteckt.“
Tatsächlich hatte sich Hauk noch nicht wieder blicken lassen. Wahrscheinlich beobachtete er uns aus seiner Höhe. Um Hrotbert und den jungen Wilderer hatten sich die Männer des Grafen geschart. Die Leute vom Castell waren näher gerückt und standen in Gruppen beisammen, in der dumpfen Erwartung eines Ereignisses, das vielleicht ihr Leben ändern würde. Der Einzige, der an allem keinen Anteil mehr nahm, war Witzlaw. Auf dem Hackklotz vor dem Saalhaus war er zusammengesunken und eingeschlafen.
„Den Impetus hat Hauk zum Markt gebracht“, nahm ich das Gespräch wieder auf. „Aber das andere …“
„Sein Verstand kämpfte mit seiner Habgier“, sagte Odo und gähnte noch einmal herzhaft. „Und wie er so heftig mit sich rang, wurde er beobachtet.“
„Beobachtet? Von seinen Wilderern?“
Odo nickte nur schläfrig.
„Wie hast du sie überhaupt aufgegriffen? Gab es einen Kampf? Hattest du vorher schon einen Hinweis darauf, dass sie es waren? Rede doch!“
„Du folterst mich, grausamer Pfaffe!“, knurrte Odo und schloss die Augen.
„Herr Odo hat eine Spürnase“, bemerkte Fulk, der in der Nähe an der Wand des Saalhauses lehnte und auf Befehle wartete. „Er ahnte schon, dass sich allerlei lichtscheues Gesindel bei dem Heiligengrab zum Morgengebet einfinden würde.“
„Was heißt das?“, fragte ich.
„Einsame Gegend. Günstig für Waldschrate, Kobolde, Schnapphähne, Holzdiebe, Wilderer und andere Teufelsbraten. Wir hofften, einige zu erwischen. Wenn man sie ein bisschen am Hals kitzelt, fällt solchen Gesellen manches ein. Zum Beispiel, ob sie gesehen haben, wie man eine Leiche wegschafft.“
„Und da seid ihr gleich an die Richtigen geraten?“
„Nicht gleich, aber bald. Da waren drei entlaufene Mönche und brieten sich einen Hasen. Die wussten Bescheid. Die wilderten nämlich bei den Wilderern, versteht Ihr? Bei Sonnenaufgang kamen die Kerle zum Beutefassen. Die falschen Brüder führten uns hin, nicht ganz freiwillig. Einer fiel dabei in eine Grube - auf einen hungrigen jungen Bären, der ihm gleich etwas abbiss. Sein Gebrüll verschreckte die Kerle. Wir mussten ihnen ein paar Pfeile nachschicken. Ich erwischte den Alten. Na, und zum Glück gibt es noch Söhne, die ihre Christenpflicht kennen. So hatten wir beide und, hol’s der Teufel, sie waren es!“
„ … die beobachtet hatten, wie Herr Hauk …“
„Wie der vor der Höhle die Leiche ablud. Zu glauben, dass so etwas nachts im Wald nicht bemerkt wird! Und es waren auch noch seine eigenen Leute. Er wusste wohl nicht, wo sie gerade sein Wild stibitzten.“
„Und was tat er nun mit der Leiche?“
„Er schmiss sie dorthin, den Helm daneben. Und den Teppich da in das Sumpfloch, zweihundert Schritte weiter. Das Beil und das Kurzschwert dazu. Auch das Kettenhemd und die Spatha sollten hinein. Dann fiel ihm aber ein, dass die sich günstig versilbern ließen. Schließlich führte er den Hengst, den Impetus, an das Sumpfloch. Er wollte ihn erst mit der Lanze erledigen. Aber das überlegte er sich auch. Er warf die Lanze hinein und stieg in den Sattel. Das andere Pferd am Zügel geschnappt, die Brünne eingesackt, das Schwert am Gürtel befestigt … weg war er!“
„Und die Wilderer? Was taten die?“
„Sie schleppten den Leichnam in die Höhle, weil es dort kühl war. Dann verschwanden sie erst einmal mit ihrer Beute. Und gestern kamen sie wieder, holten ihn heraus und setzten ihn auf das Pferd. So war das. Hängen sollen sie, diese Schufte! Diese stinkenden Rattenschwänze, dieses verlauste Wanzenfutter …“
Fulk fluchte noch eine Weile und beendete so in seiner üblichen Art die längste zusammenhängende Rede, die ich bisher von ihm gehört hatte. Dabei hakte er sein Trinkhorn vom Gürtel und zog mit den Zähnen den Holzpflock heraus, der als Verschluss diente. Zurückgelehnt, den Kopf im Nacken, goss er den Rest des Biers, das da nach einer solchen Nacht noch drin sein mochte, in sich hinein.
Inzwischen hatte Odo die Arme verschränkt und es sich, den Kopf auf der Brust, an meiner Schulter bequem gemacht. Der Graf trat heran, um die nächsten Maßnahmen zu besprechen. Sein aufgeregtes, halb bekleidetes Gefolge drängte sich hinter ihm. Noch mehr als der Mord waren es die Wilddiebereien, die diese Männer empörten. Sie hatten gerade erfahren, dass die Diebe des Hauk sich in sämtlichen Wäldern des Gaus versorgt hatten. Die meisten waren betroffen, vor allem aber Hrotbert selbst, der das größte Benefiz verwaltete. Den jungen Wilderer würde man gleich einsperren, um zu verhindern, dass er floh, bevor er verurteilt war. Des alten war man aufgrund seiner Verletzung sicher. Alle anderen würde man einfangen. Was sollte nun aber mit Hauk werden?
„Ihr seid doch wohl auch der Meinung, dass wir ihn festnehmen müssen“, wandte sich Hrotbert an mich, da Odo Schnarchtöne von sich gab. „Wer weiß, was er noch alles anrichtet, wenn er hierbleibt, dieser Lump, dieser Räuber und Mörder!“
„Nicht zu hastig, Graf“, sagte ich. „Was den Mord betriff, so hat er Frau Begga beschuldigt, das ist alles. Vermutlich weiß er auch etwas über den anderen Mord. Vorerst ist er also nur Zeuge.“
„Meinetwegen!, sagte Hrotbert, den solche Spitzfindigkeiten langweilten. „Ob nun als Mörder oder Zeuge … er hat genug auf dem Buckel, es reicht! Seht Euch hier um, kein Gut im Gau ist so verwahrlost. Er prügelt und foltert seine Leute. Die Räubereien dazu und jetzt diese Mordgeschichte. Schon Mommo hat in den letzten Jahren nur Schaden gestiftet. Wenn man Hauk gewähren lässt, wird er die Zent zugrunde richten. Und das wird den ganzen Gau in Verruf bringen. Ich werde beim König den Antrag stellen, das Benefiz einzuziehen und den Kerl zum Teufel zu jagen.“
Dieser raue, drohende Ton gefiel seinen Männern, sie grölten Beifall. „Ja, zum Teufel mit ihm!“
„Komm herunter, du Räuber!“
„Sollen wir dich erst holen?“
„Vielleicht ist er hinten herum geflohen!“
„Wenn schon, weit kann das hinkende Scheusal nicht sein!“
Die Ersten rückten gegen den Turm vor. Fäuste wurden geschüttelt, Schwerter gezückt, Lanzen und Beile geschwungen. Man rief nach Leitern.
„Haltet sie auf!“, rief ich Hrotbert zu. „Ihr dürft das nicht dulden. Ohne ein ordentliches Gerichtsverfahren darf ihm kein Haar gekrümmt werden!“
„Ihr habt Recht, aber die Männer sind aufgebracht.“ Er brüllte: „Baltram! Fulbert! Zurück!“ Doch mehr unternahm er nicht.
Eine Leiter wurde herangeschleppt. Im selben Augenblick schwirrte ein Pfeil über unsere Köpfe hinweg und fuhr hinter uns in einen Baumstamm, wo er zitternd stecken blieb. Er war zwischen Hrotbert und mir hindurch geflogen, ich hatte sogar den Luftzug gespürt. Es war einer dieser Awarenpfeile, von denen dort oben im Turm große Vorräte lagerten. Schon kam ein zweiter geflogen. Er glitt über aufspritzenden Sand und blieb liegen. Jetzt erst bemerkten die meisten, dass wir beschossen wurden.