„Seht euch vor! Der Hund greift uns an!“
Alles lief durcheinander. Die Vorderen drückten sich gegen die Turmwand. Andere suchten Schutz hinter Hütten, Bäumen, Ochsenkarren und sogar hinter dem Misthaufen. Im Laufen wurden überhastet Speere und Beile nach oben geschleudert. Fast alle diese Geschosse krachten nur Funken schlagend gegen die Turmmauer.
Regelmäßig kamen Hauks Pfeile geflogen. Die meisten landeten hinten bei uns, denn der Schütze stand weit hinter dem Einstieg, um selbst kein Ziel abzugeben. So sah er aber nicht viel und traf auch nicht.
Inzwischen war Odo wach geworden, aufgesprungen und an der dem Turm abgewandten Kirchenwand in Deckung gegangen. Ich warf mich hinter den Baumstamm, der als Bank diente. Graf Hrotbert war in der Tür eines Grubenhauses nur noch bis zu den Knien sichtbar. Er brüllte Befehle, um Ordnung in seinen Haufen zu bringen. Hinter ihm glänzten die platten Nasen und roten Apfelbacken verschreckter Kochmägde.
Inzwischen hatten alle irgendwie Schutz und Deckung gefunden. Auch Ziegen, Hunde und Hühner waren geflohen. Das Dreieck zwischen Turm, Kirche und Saalhaus leerte sich.
Als ich jetzt ein wenig den Kopf hob und über den Rand meiner Wehr spähte, erblickte ich Hauk, der sich oben im Turm ein Stück nach vorn gewagt hatte. Er hatte den Bogen gespannt und bewegte ihn ruckend hin und her, suchte ein Ziel für den abschussbereiten Pfeil.
Ich öffnete den Mund, um seinen Namen zu rufen. Noch wusste ich nicht, was ich sagen wollte, irgendetwas Mahnendes, Begütigendes, vielleicht auch Strenges. Ehe ich jedoch einen Laut hervorbrachte, erhob sich in meiner Nähe hinter dem Hackklotz ein stämmiger Bursche mit oben zusammengebundenem Schopf, sprang vier, fünf Schritte vor, maß die Entfernung, sprang noch zwei Schritte und schleuderte seine Streitaxt zum Turm hinauf. Das wirbelnde Eisen schnitt glänzende Splitter in den blauen Morgenhimmel. Aber die Franken waren nicht mehr die Meister des Wurfbeils wie ihre Ahnen zu Zeiten der Merowinger. Der Werfer verfehlte sein Ziel. Doch Hauk hatte eines für seinen Pfeil, der auf der gespannten Sehne lag.
In diesem Augenblick sah ich Witzlaw. Wie ein Hündchen lag er zusammengerollt auf dem stammdicken Hackklotz, bedeckt von grauem Wollzeug, unter dem nur ein blondes Haarbüschel und ein nackter Fuß hervorguckten.
Der Junge schlief fest. Doch der Beilwerfer flüchtete wieder hinter den Hackklotz.
„Witzlaw!“, schrie ich.
Ein furchtbarer Schreck durchzuckte mich. Was hatte ich getan? Der Junge fuhr hoch. In seinem Rücken hockte der Beilwerfer.
Da löste sich etwas von der Kirchenwand, flog fast waagerecht durch die Luft, traf sich dabei mit dem Pfeil, der in ihm stecken blieb, und riss im Fallen den Jungen zu Boden.
So lag Odo, Witzlaw mit seinem Körper verdeckend, im Sand. Die dreiflügelige Spitze des Pfeils war neben dem Nacken in seine Schulter gedrungen. Der Schaft mit den roten Federn ragte wie eine langstielige seltene Blume heraus.
„Hauk!“, rief ich. „Ihr seid wahnsinnig! Kommt zur Besinnung!“
Fulk war bei Odo, half ihm auf, nahm ihm den erschrockenen Jungen ab. Odos Gesicht schien nur aus der Nase zu bestehen, die sich vor Schmerz kräuselte.
Jetzt wurden Speere und Lanzen geschleudert und trieben Hauk wieder in den hinteren Teil seines Nests. Aus der Backhütte trat Hrotbert, ein brennendes Scheit in jeder Hand. Die Mägde hinter ihm kreischten.
Den grauen Kopf vorgestreckt, rannte der Graf in einem Bogen auf den Turm zu.
„Komm herunter, du Schurke!“, brüllte er, „dein Maß ist voll! Ergib dich, du Unhold! Komm an die frische Luft, sonst wirst du da oben ausgeräuchert!“
Hauk gab keine Antwort.
Hrotbert wartete nicht länger als zwei Atemzüge. Aus fünf Schritten Entfernung warf er die Brände hinein. Noch zweimal wiederholte er seine Aufforderung. Nichts geschah. Aus dem Einstieg oben zogen die ersten Rauchschwaden. Der Pfeil, der Odo getroffen hatte, war der letzte gewesen. Ringsum wagten sich jetzt die Männer hinter ihren Schutzwehren hervor. Die meisten hatten nur noch ihre Schwerter, die sie mordlüstern zückten.
„Im Namen Gottes, nehmt Vernunft an, Hauk!“, rief ich, während ich auf den Turm zurannte. „Wir versprechen Euch …“
Doch meine Stimme konnte gegen den Lärm, der sich wieder erhob, nicht durchdringen.
Aus dem Turm schlugen Flammen.
„Die Leiter!“, rief Hrotbert.
Zwei Männer sprangen hinzu und stellten die Leiter an. Der Graf setzte den Fuß auf die erste Sprosse, verharrte aber, denn jetzt war endlich etwas von oben zu hören. War es ein Hohnlachen? War es ein Angstschrei? Das Feuer prasselte. Dicke Rauchwolken quollen aus dem Turm. Es würde unmöglich sein, von dieser Seite einzudringen. Hrotbert stieg ein paar Stufen hinauf, war aber genötigt umzukehren.
Da erhob sich ein Ruf: „Hierher! Über die Mauer! Er will fliehen!“
Es war nicht schwer, die viele Male verfallene und unvollkommen wieder aufgerichtete Mauer zu übersteigen. Sie war so brüchig, dass man mit etwas Kraftaufwand sogar die oberen lockeren Steine hinausdrücken konnte. Schnell waren ein paar Männer hinübergeklettert. Wir hörten ihre aufgeregten Stimmen und Überraschungsrufe.
Auch ich gelangte irgendwie auf die andere Seite und landete mit einem Sprung in dem Graben voller Steine. Vor mir drängte sich Rücken an Rücken. Ich besann mich meiner Amtsgewalt und verlangte Durchlass. Die Männer machten mir Platz und nun stand ich am Rande einer Grube, aus der ein Gestank heraufzog, wie ihn die Hölle für die schlimmsten Sünder bereit halten muss. An dieser Stelle war der Graben nicht zugeschüttet, sondern hatte noch seine ursprüngliche Tiefe. Der Boden war über und über mit Knochen und verwesten Kadavern von Wildtieren bedeckt. Dazwischen lagen zerbrochene Lanzen und Pfeile und allerlei Abfälle. Hauks Kopf war dort hinein getaucht. Nur der Körper mit ausgestreckten Armen und Beinen war noch zu sehen. Er gab kein Lebenszeichen mehr von sich.
Ich blickte zum Turm hinauf. Unterhalb der fensterartigen Öffnung waren hinter der Rauchwolke ein paar morsche Balken zu sehen, die Reste eines Umgangs. An ihnen hatte Hauk die Leiter aufgehängt. Doch beim hastigen Hinabsteigen des schweren Mannes war wohl einer der Balken weggebrochen. Die Leiter, die dort noch hing, musste ins Schwanken geraten sein und Hauk hatte einen Mauervorsprung verfehlt, der ihm den Abstieg in den zugeschütteten Graben ermöglicht hätte. So war er kopfüber in die Grube gestürzt und wohl gleich erstickt.
Man konnte nur noch den Leichnam bergen und der Graf befahl ein paar Knechten hinabzusteigen.
„Dummer Kerl“, sagte er, als der leblose, mit Unrat bedeckte Körper heraufgezogen wurde. „Warum musste er uns beschießen? Warum fliehen? Warum sich umbringen?“
„Er fürchtete wohl, von Euern Leuten erschlagen zu werden“, erwiderte ich nicht ohne Vorwurf.
„Dazu wäre es nicht gekommen. Sie waren wütend. Aber im letzten Augenblick hätten sie sich beherrscht. Schließlich war er einer der ihren.“
Lupus schwieg dazu. Der Graf sah ihn etwas unsicher an.
„Was sollte ich machen? So lange warten, bis es Tote gab? Es fehlte nur eine Handbreit und Herr Odo wäre nicht mehr am Leben. Der Kerl war toll geworden, man musste ihn bändigen!“
„Ich hätte ihn lieber vor Gericht gestellt“, sagte ich seufzend.
„Gewiss, das hätte ich auch vorgezogen, ich bin vollkommen Eurer Meinung!“ Die finstere Miene des Grafen nahm plötzlich einen spöttischen Zug an. „Es war wirklich sehr dumm von ihm, sich uns nicht gefangen zu geben. Was hätte ihm Schlimmes passieren können, nach Recht und Gesetz, für alles, was er getan hat? Der Königsbann von sechzig Solidi und der Entzug des Benefizes. Man hätte ihm aber ein anderes gegeben, vielleicht in einer schlechteren Gegend, in Sachsen, Friesland oder der Bretagne. Aber er hätte sich schon eingelebt. Und dort sechzig Solidi herauszupressen … Kleinigkeit. Bald hätte er wieder fröhlich jagen können!“