Der Graf deutete mit einer verächtlichen Geste auf die Abfallgrube und wandte sich ab.
Dieser Hrotbert erscheint mir wie einer, der ein paar Jahrhunderte zu spät gekommen ist. Wie einer der alten Kriegsfürsten der Wanderzeit, die die Dinge auf ihre Weise regelten. Natürlich weiß er, dass er die Eigenmächtigkeit nicht zu weit treiben darf, er ist ja nur Vasall und als Graf Vertreter des Königs. Er gibt sich uns gegenüber auch eifrig bemüht, doch im Grunde sind ihm Kapitularien, Prozessvorschriften, Kompetenzbeschränkungen und alle juristischen Haarspaltereien ein Gräuel. Einer wie er würde am liebsten alle Missetäter, selbst Vasallen des Herrschers und Amtsträger, gleich und wie Verbrecher behandeln: Du stiehlst – das kostet ein Auge, du stiehlst zweimal – das andere Auge und die Nase, du stiehlst dreimal – du hängst. Männer wie Mommo und Hauk waren seiner redlichen Natur zuwider und er ergriff erfreut die Gelegenheit, diese Pestbeule aus seinem Gau zu entfernen. Wenn er sich auch bekümmert gab, so erfüllte es ihn in Wahrheit mit Genugtuung, einen Übeltäter wie Hauk auf eine zwar waghalsige, doch immerhin nicht gesetzlose Art dem irdischen Richterspruch entzogen zu haben. Mochte er gleich vor seinen himmlischen Richter treten, damit hatte Graf Hrotbert nichts mehr zu tun!
Tatkräftig und gut gelaunt ging er nun gleich daran, den Brand, den er selbst gelegt hatte, zu löschen. Mit weit schallender Stimme trieb er alles, was Beine hatte, zur Arbeit an. Knechte und Mägde bildeten eine Kette zum Brunnen, Krüge und Kannen wurden von Hand zu Hand gereicht. Bald versiegten die Flammen, die alle brennbaren Bestandteile des Turms verzehrt hatten. Dicker schwarzer Rauch drang aus den Öffnungen und Ritzen und kroch in langen Schwaden über den Boden des alten Castells. Inzwischen steht nur noch der hohle steinerne Klotz und erwartet, was seine Bestimmung ist: den Zerfall.
Ich kam nun endlich dazu, mich um meinen verletzten Amtsgefährten zu kümmern. Er hatte sich auf meinem Mooslager niedergelassen. Rouhfaz und Fulk verarzteten ihn, indem sie ihre bescheidenen Kenntnisse in der Heilkunde vereinigten. Der Pfeil war bereits entfernt und die Wunde gewaschen, Fulk legte einen Verband an. Odo wälzte sich auf dem Bauch im Gras, stöhnte und fluchte.
„Hast du große Schmerzen?“ Ich fühlte mich mitschuldig an dem Unfall.
„Was zählt das!“, erwiderte er. „Es schmerzt viel mehr, dass unser Zeuge beim Teufel ist. Die Riesendame wird uns ein Hohnlachen hinterher schicken, mit einem so gewaltigen Echo, dass wir es als taube Greise noch hören werden.“
„Mach dir darüber keine Gedanken. Wichtig ist jetzt deine Genesung, damit wir bald weiterziehen können.“
„Herr Odo ist der edelste Mensch unter der Sonne“, bemerkte Rouhfaz. „Wenn man bedenkt, dass er sein Leben für den Sohn einer Unfreien …“
„Halt’s Maul“, knurrte Odo. „Du weißt ja gar nicht, warum ich es getan habe. Leih mir dein Ohr, Vater, dir will ich es beichten!“ Er winkte mich mit dem Finger zu sich herab und sagte leise: „Für einen Schluck Branntwein und das andere. Ich fürchte, sie hätte mir sonst nichts mehr gewährt!“
Darüber wurde er sehr fröhlich und lachte laut. Doch gleich darauf verzog er vor Schmerz das Gesicht und das Lachen ging in ein wütendes Heulen über.
In diesem Augenblick erschien ein Berittener. Es war derselbe junge Vasall, der mich am Tage zuvor hier abgeholt hatte.
„Verzeiht! Ich soll mich auf Befehl des Herrn Grafen an Euch wenden.“
„Nun?“
„Der Gefangene vom Salhof wollte fliehen. Und die Zentgräfin hat man eingesperrt. Ihr müsst sofort kommen!“
9. Kapitel
Ich bestieg meinen Esel und befahl den drei Männern unseres Trupps, mich zu begleiten. Fulk und Rouhfaz blieben bei Odo zurück. Einem Knecht vom Castell trug ich auf, den Teppich, der noch immer zwischen Turm und Kirche im Sand lag, wieder aufzuladen und uns so schnell wie möglich zu folgen. Während des Rittes durch das Wäldchen gab mir der junge Vasall des Grafen einen kurzen Bericht.
Herr Siegram hatte noch während der Nacht versucht, mit zwei Pferden vom Herrenhof zu entkommen. Er wollte zunächst zur Schänke reiten, weil er dort seinen jungen Begleiter vermutete. Ein paar Leute des Grafen, die in der Nähe des Tors lagerten und strengen Befehl hatten, niemanden herauszulassen, fingen ihn aber ab. Er behauptete, die Zentgräfin selbst habe ihn aus seinem Gefängnis befreit, doch habe er nicht fliehen wollen, sondern die Absicht gehabt, sich unter den Schutz der Königsboten zu begeben. Das glaubte man ihm nicht und so wurde ihm befohlen, abzusitzen und unsere Ankunft am Morgen zu erwarten.
Es sei dann auch ein Mann des Grafen auf den Salhof gegangen, fuhr der Bote fort, um sich über die näheren Umstände der Befreiung des Gefangenen zu erkundigen. Zu seiner großen Verwunderung habe er, obwohl es noch tiefe Nacht war, die meisten Bewohner auf den Beinen gefunden. Sie hätten alle um das Saalhaus herum gestanden, wo die Toten lagen und wo die Zentgräfin eingesperrt war. Sie selber seien es nämlich gewesen, die anstelle des Entwichenen die edle Frau eingesperrt hatten. Die Zentgräfin habe getobt und geschrien, doch die Leute vom Salhof hätten sie nicht heraus gelassen. Jemand habe sogar gerufen, das sei eine Abgesandte des Satans und sie solle nur dort drinnen verrecken. Der Mann des Grafen habe sich unverrichteter Dinge zurückgezogen.
Auf meine Frage, warum sie uns alle diese Vorfälle erst so spät gemeldet hätten, erklärte der junge Vasall, sie hätten vom Grafen den Befehl gehabt, bis zu seiner Rückkehr vom Castell nicht von ihren Posten zu weichen. Erst als man die Rauchsäule hinter dem Wäldchen bemerkt habe, sei man unruhig geworden und der Anführer habe sich entschlossen, ihn loszuschicken.
Wir erreichten das Tor des Herrenhofs. Ringsum lagerten die Leute des Grafen unter den Bäumen. Einer führte mir gleich den übernächtigten, schmutzbedeckten und unrasierten Siegram zu. Was für ein Jammerbild war aus dem strahlenden Sänger geworden! Er hob Lupus seine mit Lederriemen gebundenen Hände entgegen.
„Bitte veranlasst, dass sie die Fesseln lösen! Seht, meine Finger sind ganz verkrümmt. Wie sollen sie jemals wieder die Harfe schlagen!“
Ich erfüllte die Bitte und nahm ihn ein paar Schritte beiseite.
„Nun? Was ist vorgefallen? Wie kommt Ihr hierher?“
„Was immer man Euch berichtet hat … Ich wollte nicht fliehen!“ beteuerte der Sänger. Flehentlich blickte er mich mit den vom vom Wachen und Weinen entzündeten Augen an. „Bitte glaubt mir! Es waren die Umstände … seltsame Umstände, an denen ich unschuldig bin. Diese Frau …“
„Ihr meint die edle Frau Begga, die Zentgräfin.“
„Sie kam heute Nacht in mein Gefängnis. Ich lag auf dem Stroh, die Kette am Fuß, in einem Dämmerschlaf. Plötzlich kniete sie vor mir und sprach auf mich ein: ‚Wach auf! Lass uns fliehen! Es ist alles bereit. Die Pferde sind gesattelt, das Gepäck ist vorbereitet, mehrere Beutel mit Gold und Juwelen. Wir gehen über den Rhein und dann nach Toul und über Lyon nach Périgueux. Dort in der Gegend lebt ein Bruder meines Vaters, er ist ein reicher Laienabt und wird uns Unterkunft gewähren. Mit dem Gold sind wir aber unabhängig. Wenn du willst‘, fuhr sie fort, ‚begleite ich dich auf deinen Reisen, wie Adalmar, meinen geliebten Mann, dem du so ähnlich bist. Wir müssen nur erst einmal weg von hier, diesem schrecklichen Ort, wo ich so lange gelitten habe. Ich verzeihe dir alles, verzeih auch du mir! Ich wollte, dass sie dich verurteilten und dass du deine Schuld hier abbüßen müsstest. Später wollte ich mit dir fliehen. Doch nun hat sich alles geändert. Sie verdächtigen mich, wir können nicht warten. Wenn wir nicht zögern, wird alles gut. Wir werden uns lieben und ich will dir dienen und deiner Stimme lauschen. Steh auf und komm!‘ So sprach sie. Haltet Ihr das für möglich? Während sie hastig und leidenschaftlich flüsterte, befreite sie meinem Fuß vom Eisen. Sie wollte mir beim Aufstehen helfen, doch in meiner Schwäche sank ich zweimal zurück auf das Stroh. Plötzlich war sie über mir und bedeckte mein Gesicht mit Küssen. Sie flüsterte mir zärtliche Worte zu und geriet vollkommen außer sich. Sie …“