Niemand vermochte die Tränen zu zählen, die sie um Adalmar vergoss.
Doch als sie keine mehr hatte, erhob sie das stolze Haupt.
Nein, diesmal wollte sie nicht wieder Opfer sein.
Sie wollte sich den dunklen Gewalten nicht beugen.
Sie erinnerte sich ihrer Kraft und sie beschloss, den Kampf aufzunehmen.
So harrte sie in dem finsteren Winkel aus, um ihn nicht eher zu verlassen, als sie gesiegt hatte.
Die Zauberin tarnte sich gern als fleißige Hausfrau.
Eines Tages zwang sie Demetria, mit ihr die Wäsche zu besorgen.
Leichtfertig stieg sie ins tiefe Wasser hinein.
Da überwand sich die schöne Demetria und gab der Zauberin einen Stoß.
Das furchtbare Weib versank in den Fluten.
„Sie ist ertrunken wie eine Ratte!“, sagte Frau Begga und lachte auf.
Sie war auf den Sänger zugegangen, unwiderstehlich angezogen. Ihr funkelnder Blick, die sprechenden Gesten, mit denen sie das, was er vortrug, bestätigte – alles verriet sie. Jede Vorsicht vergessend, war sie nicht mehr fähig, sich zu beherrschen.
Die ersten Regentropfen fielen. Das Paar stand sich gegenüber, vor einer Wand herandrängender Zuhörer. Auch wir Richter standen auf, traten näher.
Siegram schlug auf der Harfe schrille Töne an.
Das Gute hatte gesiegt.
Aber der Sieg war nicht vollständig.
Noch lebte der Unhold, der den herrlichen Adalmar ermordet hatte.
Mit der grausamen Willkür des Despoten herrschte er in seinem Winkel.
Unersättlich war seine Gier nach Gold und Geschenken.
Die schöne Demetria wusste, dass ihr nun das Schwerste bevorstand.
Der Schurke hatte sein begehrliches Auge auf sie geworfen.
Lange rang sie mit sich, denn er ekelte sie.
Sie wollte nicht wieder Opfer sein, aber sie opferte sich ihrer Rache.
So entschloss sie sich, mit ihm das Bett zu teilen.
Viele Jahre litt sie und wartete.
Nie vergaß sie, was sie zu tun hatte.
Endlich kam jene Nacht.
Er betrank sich, erzwang sein Gattenrecht.
Dann schlief er ein.
Er wollte am Morgen fort, um gegen Feinde zu reiten.
Aber sie wusste, dass im Krieg nur die Edlen und Tapferen fallen.
Der feige Unhold würde mit reicher Beute zurückkehren.
Sie durfte nicht länger zögern.
Der Pfeil der Awaren, der ihn im Kampf nicht finden würde, traf den Mörder unter dem eigenen Dach.
Die schöne Demetria hatte ihre Rache vollendet!
Ihre Augen leuchteten. Sie lachte befreit und streckte Siegram die Hände entgegen.
„So war es! Wie wunderbar du es besungen hast! Nur du warst imstande, es ihnen zu sagen. Ich selber hätte es nicht gekonnt. Wolltest du deshalb nicht mit mir fliehen? Wolltest du nicht mit mir fort, ohne ihnen gesagt zu haben, wie groß und edel meine Rache war?“
Sie drückte seine Hand wie an jenem ersten Abend, den Blick tief in den seinen versenkt.
Der Himmel hinter den schwarzen Wolken war jetzt fast gelb. Ringsum blitzte es auf, in kurzen Abständen folgten die Donnerschläge. Es war, als feierte Donar, der germanische Gott mit dem Feuerbart, den Triumph des heidnischen Brauchs der Blutrache mit einem Freudengewitter. Immer dickere Tropfen fielen. Wie eine Herde umdrängten wir das Paar in der Mitte. Langmähnig, blond, alle anderen überragend, schienen die beiden uns nicht mehr wahrzunehmen. Als wären sie aus längst vergangenen Zeiten zu uns herüber gekommen, zelebrierten sie ihr Ritual.
Sie bat: „Singe weiter! Berichte alles!“
Am Tage nach der Vollendung ihrer Rache hatte die schöne Demetria einen Traum.
Adalmar, ihr Geliebter und Gatte, erschien ihr.
Es war ihr, als kehrte er zurück, um ihr für ihre Standhaftigkeit und ihren Opfermut zu danken.
Ein heißes Gefühl des Glücks und der Freude durchströmte sie, zum ersten Mal seit so vielen Jahren.
Sie zog für ihn ihr bestes Gewand an.
Sie schmückte sich mit Ketten und Ringen.
Aber da hörte sie eine Stimme, die sie verspottete.
Es war eine bösartig züngelnde Schlange, die Tochter der Zauberin und des Unholds, die ihren Traum zerstören wollte.
Die Schlange ließ nicht von ihr ab und ihre Bisse verletzten die schöne Demetria.
Sie war verzweifelt, doch plötzlich sah sie, wie das böse Reptil, geblendet von den Juwelen, den Kopf in ihre Truhe steckte.
Rasch warf sie den Deckel zu, die Schlange starb.
Der Traum war gerettet …
„Ja!“, rief die Frau. „So starb die Schlange! Aber es ist kein Traum. Singe weiter! Was geschieht nun? Singe! Du weißt es doch! Warum schweigst du? Warum verstummst du?“
„Das genügt, Herr Siegram!“, sagte Graf Hrotbert. „Sie hat die drei Morde gestanden. Ihr habt es alle gehört. Ihr seid Zeugen!“
Plötzlich war das Gewitter über uns. Aus den gelben Wolkengebirgen schossen Blitze in alle Richtungen, gefolgt von markerschütterndem Donnergetöse. Die schwarzen Wolken entluden sich sintflutartig. Alles stürzte zum Saalhaus und unter die Dächer der Hütten.
Siegram verbarg die Harfe unter seinem seidenen Umhang. Frau Begga wollte sich an ihm festklammern, aber er riss sich los. Da glitt sie aus und stürzte zu Boden. Mit langen Sätzen, den Kopf eingezogen, in gebückter Haltung die Harfe an sich drückend, rannte er auf ein trockenes Plätzchen zu.
Auch ich hatte meine Kutte gerafft und das schützende Dach des Saalhauses erreicht. Als ich zurückblickte, sah ich durch die dicken, graugelben Streifen des Regens, im zuckenden Licht der Blitze unten auf dem Gerichtsplatz nur noch zwei Menschen: die ehemalige Zentgräfin, die reglos auf dem schlammigen Boden lag, und Odo, der sich um sie bemühte. Auch um ihn hatte sich niemand gekümmert. Auf seinen Stock gestützt, hatte er sich der Frau genähert, und jetzt versuchte er, sie zum Aufstehen zu bewegen.
Über hundert Männer standen ringsum unter Bäumen und Dächern und sahen zu. Kein Einziger rührte sich zur Hilfe. Auch ich nicht.
Das Gewitter zog schnell vorüber und die außerordentliche Gerichtsversammlung trat gegen Abend noch einmal zur Verkündung des Urteils zusammen.
Natürlich wurde der Sänger freigesprochen. Gegen Frau Begga will Hrotbert selbst, wie schon vorher beabsichtigt, vor dem Grafschaftsgericht Anklage erheben. Da ihre Sache völlig aussichtslos ist, wurde sie sofort in Verhaft genommen. Um aber zu vermeiden, dass auch in diesem Fall wieder Rache dem Richterspruch vorgreift, brachten Gefolgsleute Hrotberts sie noch am selben Abend auf eines der Güter des Grafen.
Für die Verhandlung vor dem Grafschaftsgericht wird übrigens nicht, wie zunächst vorgesehen, die nächste turnusmäßige Versammlung, das „echte Ding“ der Lex Salica, abgewartet, sondern sie soll bereits in ein paar Tagen stattfinden. Wir werden dann allerdings nicht mehr hier sein. Der besondere Grund für die Eile ist die Ankunft eines syrischen Sklavenhändlers, der schon ein begehrliches Auge auf die schöne Demetria geworfen hat. Er will das Ergebnis der Gerichtsversammlung abwarten, das im Grunde aber feststeht. Es geht nur noch um die Höhe des Wergelds. Zwar hat sich herausgestellt, dass Begga-Demetria von ihrem ersten Gemahl Schmuck und Juwelen von beträchtlichem Wert geblieben sind, doch wird das nicht reichen, um die Verwandten ihrer drei Opfer zu entschädigen. Unvermeidlich wird der Verlust ihrer Freiheit sein. Der Händler will den Rest zahlen, nicht weniger als fünfzig Solidi, den höchsten Betrag, wie er versicherte, den er jemals für eine Sklavin aufbringen musste.