Ochsen, Kühe, Kälber - alle verschwanden sie zu Hunderten, geheimnisvoll angezogen, in der metallisch
glänzenden Öffnung.
»Wozu ermordet der Mensch die armen Tiere?« fragte das Pferd.
»Ja, es ist ein Jammer«, erwiderte der Onkel. »Aber wenn Sie mal ein Schnitzel gegessen hätten, wären Sie nachsichtiger!«
Konrad lief an der Längsseite der Maschinenhalle entlang. Man hörte das Geräusch von Motoren und Kolben. Ringelhuth und das Pferd hatten Mühe, dem Jungen zu folgen.
Nach einiger Zeit erreichten sie die Rückseite der Fabrikanlage.
Dort standen, in langer Reihe, elektrische Güterzüge. Und aus der Hinterfront des Gebäudes fielen die Fertigfabrikate der Viehverwertungsstelle in die Eisenbahnwaggons. Aus einer der Wandluken fielen Lederkoffer, aus einer anderen Fässer mit Butter, aus einer dritten purzelten Kalblederschuhe, aus einer vierten Büchsen mit Ochsenmaulsalat, aus einer fünften große Schweizer Käse, aus einer sechsten rollten Tonnen mit Gefrierfleisch; aus wieder anderen Luken fielen Hornkämme, Dauerwürste, gegerbte Häute, Kannen voll
Milch, Violinsaiten, Kisten mit Schlagsahne und vieles noch.
Waren die Waggons gefüllt, so läutete eine Glocke. Dann rückten die Züge weiter vor, und leere Waggons fuhren unter die Luken, um beladen zu werden.
»Und nirgends eine Menschenseele! Nichts als Ochsen!« rief Onkel Ringelhuth. »Alles elektrisch! Alles automatisch!«
Aber gerade, als er das rief, kam ein Mann über den Fabrikhof geschlendert. Er grüßte und sagte: »Ich habe heute Dienst. Jeden Monat einmal. Zwölf Tage im Jahr. Ich beaufsichtige die Maschinerie.«
»Eine Frage, Herr Nachbar«, sagte das Pferd. »Was machen Sie eigentlich an den übrigen dreihundertdreiundfünfzig Tagen des Jahres?«
»Da seien Sie ganz ohne Sorge«, meinte der Mann vergnügt. »Ich habe einen Gemüsegarten. Außerdem spiele ich gerne Fußball. Und malen lerne ich auch. Und manchmal lese ich Geschichtsbücher. Ist ja hochinteressant, wie umständlich die Leute früher waren!«
»Zugegeben«, sagte der Onkel. »Aber woher kriegen Sie die Unmenge Elektrizität, die Sie in Ihrer Stadt verbrauchen?«
»Von den Niagarafällen«, erzählte der Mann. »Leider hat es dort seit Wochen so geregnet, daß wir sehr in Sorge sind. Die Spannung und die Stromstärke haben derartig zugenommen, daß wir fürchten, in der Zentrale könnten die Sicherungen durchbrennen. Ach, da erscheint gerade die 4-Uhr-Zeitung.«
»Wo denn, Herr Nachbar?« fragte Konrad.
Der Aufseher starrte zum Himmel empor. Die ändern folgten seinem Beispiel. Und tatsächlich, am Himmel erschienen, in weißer Schrift auf blauem Grunde, Zeitungsnachrichten. »Keine Gefahr für Elektropolis!« stand da. Und dann folgte ein Gutachten der Sicherheitskommission.
Außerdem erschienen Notizen über die Wirtschaftsverhandlungen mit dem Mars, über die letzten Forschungsergebnisse der verschiedenen wissenschaftlichen Institute, über die morgigen Rundfunk- und Heimkinodarbietungen, und zum Schluß wurde die Romanfortsetzung ans Himmelsgewölbe projiziert.
Konrad wollte gerade den Roman zu lesen anfangen, da entstand plötzlich ein Höllenlärm. Aus den Luken der
Fabrikwand fielen die Produkte der Viehverwertung in immer rascherem Tempo. Es regnete förmlich Koffer und Fleischsalat, Butter, Stiefel, Schweizer Käse und Schlagsahne. Die Waggons liefen über. Jetzt flogen schon Backsteine, Fensterrahmen und Maschinenteile aus den Luken.
»O weh!« schrie der Aufseher. »Die Fabrik frißt sich selber auf!« Und er rannte davon.
Die Katastrophe begann damit, daß die Elektrizitätswerke der Stadt, infolge der Überschwemmungen am Niagara, von der hundertfachen Kraft getrieben wurden. Die Maschinen der Viehverwertungsstelle liefen, als sämtliche Herden verarbeitet worden waren, leer. Schließlich liefen sie rückwärts, saugten die Butterfässer, den Käse, die Koffer, die Stiefel, das Gefrierfleisch, die Dauerwurst und alles übrige aus den Waggons heraus und spien, am Fabriktor, das ursprüngliche Vieh wieder aus dem Trichter. Die Ochsen, Kälber und Kühe rannten brüllend und nervös auf die Straße und in die Stadt hinein.
Der Onkel und Konrad waren auf ihr Pferd geklettert und wurden von den wild gewordenen Viehherden fortgerissen. Auf den Straßen rasten die Rolltrottoirs wie irrsinnig dahin. Die automatischen Autos schössen wie Blitze vorbei, prallten gegeneinander oder sausten in Häuser hinein und rasten treppauf. Die elektrischen Lampen schmolzen. Die künstlichen Gärten welkten und blühten in einem fort. Am Himmel erschien schon die Zeitung von übermorgen.
Das Pferd war dem nicht länger gewachsen. Es blieb auf der Fahrstraße stehen und schlotterte mit den Knien.
»Entschuldigen Sie, Kaballo!« rief der Onkel und gab dem Pferd mit dem Spazierstock einen solchen Schlag auf die Kehrseite der Medaille, daß das Tier vor Schreck alle Angst vergaß und wie besessen durch die Katastrophe jagte.
Nach etlichen Minuten waren sie bereits aus der Stadt hinaus und gerettet.
»Eine verdammt kitzlige Sache, die Technik«, sagte das Pferd.
Sie sahen zurück und konnten beobachten, wie die Fahrstühle aus den Dächern flogen.
Der Lärm der schwankenden Aluminium-Wolkenkratzer klang nach Krieg.
Onkel Ringelhuth klopfte dem Pferd den Hals, trocknete
sich die Stirn und sagte: »Das Paradies geht in die Luft.« Konrad packte den Onkel am Arm und rief: »Mach dir nichts draus! Wenn ich groß bin, bauen wir ein neues!« Und dann ritten sie weiter. Immer geradeaus. Der Südsee entgegen.
Die Begegnung mit Petersilie
Sie ritten durch weißes Dünengebirge. Dem Pferd kam Sand in die Kugellager. Es knirschte und quietschte ganz abscheulich. Und der Onkel hielt sich die Ohren zu.
»Ich werde verrückt!« rief Konrad, weil er Ringelhuth aufziehen wollte. Aber der Onkel konnte es, weil er sich die Ohren zuhielt, natürlich gar nicht verstehen. Schließlich hörten die Dünen auf, und das Meer begann. Es war marineblau und schien kein Ende zu nehmen. Da standen nun die drei Freunde vorm Indischen Ozean und guckten, obwohl die Sonne brannte, in den Mond. Das Pferd sagte, es habe es ja gleich gesagt, und wollte wieder einmal umkehren. Doch da kam es bei den ändern schief an. Und so knirschte es unentwegt den Strand entlang, weil Ringel-huth gemeint hatte, vielleicht träfen sie irgendwo einen Kutter.
Einen Kutter trafen sie zwar nicht, aber sie entdeckten etwas noch viel Merkwürdiges: Sie sahen ein zwei Meter breites Stahlband, das weit ins Meer hinausreichte und ebenso endlos zu sein schien wie der Ozean selber. Es glich fast einer schmalen Gasse, die übers Meer führte, oder einem Bündel Mondstrahlen, das sich nachts im Wasser spiegelt.
Auf diesem Stahlband, nicht weit vom Strand entfernt, stand eine einsame Frau, hielt einen Borstenbesen und schrubbte.
»Was machen Sie denn da?« fragte der Onkel.
»Ich scheuere den Äquator«, gab ihnen die Frau zur Antwort.
»Was? Das ist der Äquator?« rief Konrad und zeigte ungläubig auf das stählerne Band.
»Und wozu scheuern Sie denn das Ding?« fragte das Pferd.
»Wir hatten drei Tage Monsun«, sagte die Scheuerfrau. »Es gab haushohe Wellen, und heute morgen war der Äquator rostig. Und nun schrubbe ich den Rost weg. Denn wenn er sich festfrißt, könnte der Äquator platzen, und dann ginge der Globus in die Brüche.«
»Das beste ist, Sie pinseln Ihren blöden Äquator mit Mennige an«, sagte das Pferd. »Dann kann er gar nicht erst rosten.«
»Er muß doch aber ein bißchen rosten«, antwortete die Frau. »Sonst verlier ich meine Anstellung.«
»Dann entschuldigen Sie gütigst«, meinte das Pferd. »Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.«
»Oh, das macht fast gar nichts«, sagte die Frau bescheiden und scheuerte ihres Wegs.