»Er ist sicher schon unterwegs«, sagte das Pferd.
Da kannte Ringelhuth kein Halten mehr. Er rannte hinaus zum Schrank, blickte hinein und rief: »Wahrhaftig, der Schrank hat keine Rückwand!«
Das Pferd, das ihm gefolgt war, meinte vorwurfsvolclass="underline" »Wie konnten Sie daran zweifeln? Klettern Sie nur auch hinein!«
»Bitte nach Ihnen«, sagte Onkel Ringelhuth, »ich bin hier zu Hause.«
Das Pferd setzte also die Vorderhufe in den Schrank. Ringelhuth schob aus Leibeskräften, bis der Gaul im Schrank verschwunden war. Dann kletterte der Onkel ächzend hinterher und sagte verzweifelt: »Das kann ja gut werden.«
Eintritt frei! Kinder die Hälfte!
Onkel Ringelhuth stieß in dem Schrank gegen einen harten Gegenstand. Das war ein alter Spazierstock, und den nahm er mit. Die Südsee ist weit, dachte er. Und dann raste er wie ein studierter Langstreckenläufer in das Dunkel hinein und immer geradeaus. Zunächst begleiteten hohe bröcklige Mauern den gespenstischen Weg. Aber plötzlich hörten die Mauern auf, und der Onkel befand sich in einem Wald.
Doch in diesem Wald standen nicht etwa Bäume, sondern Blumen! Gewaltige Glockenblumen zum Beispiel, hoch wie Tannen. Und wenn der Wind wehte, schlugen die Staubgefäße gegen die Blütenwände, und das klang, als würde geläutet. Und neben den Glockenblumen standen Schwertlilien. Und Kamillen. Und Akelei. Und Rosen in herrlichen Farben. Und alle Blumen in diesem Wald waren groß wie jahrhundertealte Bäume. Und die Sonne ließ die mächtigen Blüten leuchten. Und die Glockenblumen läuteten verzaubert, denn es wehte eine leichte Brise. Und Onkel Ringelhuth rannte zwischen den vergrößerten Blumen hin und her und rief dauernd:
»Konrad, wo bist du?«
Fast zehn Minuten rannte er so, ehe er die Ausreißer erwischte. Negro Kaballo, das Rollschuhpferd, stand vor einem gigantischen Veilchen und knabberte an dessen Blättern, die wie schwebende grüne Teppiche aussahen. Und der Neffe saß auf dem Rücken des Gauls, blickte in die Blumenwipfel hinauf und hatte, obwohl er für so etwas eigentlich viel zu erwachsen war, den Daumen in den Mund gesteckt.
»Ich werde verrückt!« rief der Onkel und trocknete sich mit dem Taschentuch die Stirn. »Ich werde verrückt!« wiederholte er hartnäckig. »Erstens lauft ihr davon, und zweitens schleppt ihr mich in einen Wald - also, so ein Wald ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht begegnet.«
»Sind wir eigentlich schon in der Südsee?« fragte Konrad.
»Nimm den Finger aus dem Mund, wenn du mit uns sprichst!« befahl der Onkel.
Konrad erschrak, gehorchte blindlings, betrachtete seinen Daumen, als hätte er ihn noch nie gesehen, und schämte sich in Grund und Boden.
Das Pferd rief: »Sitzen Sie auf!« Der Onkel ging in die Kniebeuge, sprang hoch, schwang sich auf den Pferderücken, klammerte sich an seinem Neffen fest, gab dem Tier einen Klaps mit dem Spazierstock, und fort ging’s! Der Rappe war vorzüglicher Laune und deklamierte: »Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Es ist der Vater mit seinem Kind.«
Aber Konrad sagte: »Wir sind doch nur Onkel und
Neffe.«
Und Ringelhuth meinte: »Wieso Nacht? Sie übertreiben. Galoppieren Sie lieber!«
»Gemacht!« rief das Pferd und schaukelte die zwei durch den Blumenwald, daß ihnen Hören und Sehen verging. Konrad hielt sich an der flatternden Mähne fest und der Onkel an Konrad; und der Fleischsalat und der Himbeersaft gerieten sich mächtig in die Haare. Die Rosen schimmerten bunt. Die Glockenblumen läuteten leise. Und Onkel Ringelhuth meinte zu sich selber: »Wenn wir nur schon da wären.«
Und dann stand das Pferd mit einem Ruck still.
»Was gibt’s denn?« fragte Konrad, der die Augen während des Galopps geschlossen hatte und sie nun
vorsichtig wieder öffnete.
Sie hielten dicht vor einem hohen Bretterzaun. Und an
dem Bretterzaun hing ein Schild. Und auf dem Schild war zu lesen:
Onkel Ringelhuth rutschte vorsichtig vom Gaul, musterte das Schild und den Zaun und rief schließlich: »Da stimmt doch was nicht.«
»Wieso?« fragte das Pferd.
»Der Zaun hat keinen Eingang«, sagte der Onkel, und nun sahen die anderen auch, daß sie keine Tür sahen. Konrad stellte sich auf Negro Kaballos Rücken, hielt sich am Zaun fest und wollte sich hochziehen. Aber Ringelhuth packte den Jungen an den Füßen. »Du bist ein maßloses Schaf, mein Sohn«, flüsterte er. »Glaubst du wirklich, daß man kletternd ins Schlaraffenland gelangt? Da drüben leben bekanntlich die faulsten Menschen, die es auf der ganzen Welt gibt. Die werden doch nicht klettern!«
Aber der Junge gab nicht nach. Er klammerte sich an dem Zaun fest und zog den Körper langsam hinauf. »Gleich kann ich hinübersehen«, ächzte er begeistert. Da aber tauchte von drüben unvermittelt eine gewaltige Hand auf und verabreichte Konrad eine solche Ohrfeige, daß er den Zaun losließ, neben dem Pferd ins Gras fiel und sich die Backe hielt.
»Da hast du’s«, sagte der Onkel. »Man muß nicht immer klettern wollen, bloß weil man’s kann.« Er gab ihnen ein Zeichen, daß sie schweigen sollten, lehnte sich an den Baum und rief: »Wenn sich diese Kerle einbilden sollten, daß wir klettern, dann haben sie sich geschnitten. Lieber bleiben wir draußen.« Dann gähnte er herzzerreißend und sagte verdrießlich: »Das beste wird sein, wir schlafen ‘n paar Runden.«
Kaum hatte er ausgeredet, da ging in dem Zaun eine Tür auf, obwohl vorher gar keine Tür dringewesen war. Und eine Stimme rief: »Bitte näherzutreten!«
Sie schritten durch die Tür. Und das erste, was sie sahen, war ein riesiges Bett. Und in dem Bett lag ein dicker Mann und knurrte: »Ich bin der Portier. Was wünschen Sie?«
»Wir wollen nach der Südsee«, erwiderte der Onkel.
»Immer geradeaus«, sagte der Portier, drehte den Besuchern den Rücken und schnarchte, was das Zeug hielt.
»Hoffentlich strengt Sie das Schnarchen nicht zu sehr an«, meinte der Onkel. Aber der Dicke war schon hinüber, oder er war zu faul zum Antworten.
Konrad betrachtete sich die Gegend. Es handelte sich offenbar um einen Obstgarten.
»Sieh nur, Onkel!« brüllte der Junge. »Hier wachsen Kirschen und Äpfel und Birnen und Pflaumen auf ein und demselben Baum!«
»Es ist bequemer so«, meinte der Onkel.
Aber das Pferd war mit dem Schlaraffenland noch nicht einverstanden. »Solange man das Obst noch pflücken muß«, sagte es, »solange kann man mir hier nicht imponieren.«
Konrad, der einen der Vierfruchtbäume genau betrachtet hatte, winkte den Onkel und das Pferd herbei. Und was sie da feststellten, war wirklich außerordentlich praktisch. Auf dem Baumstamm befand sich ein Automat mit Griffen und Inschriften. »Am linken Griff einmal ziehen: 1 geschälter, zerteilter Apfel«, stand zu lesen. »Am linken Griff
zweimal ziehen: 1 gemischtes Kompott. Am rechten Griff einmal ziehen: 1 Stück Pflaumenkuchen mit
Schlagsahne.«
»Das ist ja enorm«, sagte der Onkel und zog rechts zweimal. Darauf klingelte es, und schon rutschte ein Teller mit Kirschenmarmelade aus dem Baum.
Nun fingen alle drei an, die Bäume zu bearbeiten, und ließen sich’s schmecken. Den größten Appetit entwickelte das Roß. Es fraß zwei Bäume leer und konnte kein Ende finden. Onkel Ringelhuth trieb zum Aufbruch.
Doch das Pferd sagte: »Gehen Sie nur voraus, ich komme nach.« Und so marschierten Konrad und der Onkel immer gradeaus ins Schlaraffenland hinein. Manchmal liefen Hühner gackernd über den Weg. Sie zogen kleine blanke Bratpfannen hinter sich her. Und wenn sie Leute kommen sahen, blieben sie stehen und legten geschwind Spiegelei mit Schinken oder Omeletten mit Spargelspitzen.