Die drei spazierten weiter und kamen zu einer dicken Dame. Die lag auch im Bett und hatte vor lauter Nachdenken tausend Falten auf der Stirn. Plötzlich stand ein alter Mann mit einer Botanisiertrommel vor ihr.
»Zurück, marschmarsch!« brummte sie, und da war er weg. Und dann zog sie noch mehr Falten, und wieder stand ein alter Mann mit einer Botanisiertrommel vor ihrem Bett.
Er ähnelte dem ersten. Er hatte nur noch weniger Zähne, dafür aber lange weiße Locken.
»Zurück, marschmarsch!« kommandierte die Frau, und da verschwand auch er. Und dann stand ein dritter alter Mann vor ihr, der ähnelte den ändern beiden. Aber er hatte eine größere Nase und eine Glatze. »Zurück, marschmarsch!« schrie die Frau wütend und schloß erschöpft die Augen.
»Was machen Sie denn da, Frau Brückner?« fragte Seidelbast.
»Ach, Herr Präsident«, antwortete die Frau, »ich stelle mir meinen Großvater vor. Aber ich krieg ihn nicht mehr zusammen. Ich habe vergessen, wie er aussah.«
»Ärgern Sie sich nicht!« warnte Seidelbast. »Sie wiegen seit der vorigen Woche nur noch zweihundertfünfundfünfzig Pfund. Es täte mir leid, Sie aus dem Schlaraffenland ausweisen zu müssen.«
»Seit acht Tagen probier ich das nun«, sagte Frau Brückner weinend, »und immer wieder mißlingt mir der olle Mann. Gute Nacht, Seidelbästchen!« Und schon schlief sie. So sehr hatte sie ihr Gehirn strapaziert.
»Dort!« schrie Konrad. »Dort! Seht nur! Ein Löwe!«
Vor einem der Betten stand ein gewaltiger blonder Löwe, riß das Maul sperrangelweit auf und zeigte sein Gebiß.
»Natürlich der dicke Borgmeier«, schimpfte Seidelbast. »Dauernd stellt er sich wilde Tiere vor. Das ist eine fixe Idee von ihm. Wenn das nur nicht mal schiefgeht!«
Der blonde Löwe schlich näher an das Bett, machte einen
Buckel und fauchte gräßlich. Der dicke Borgmeier wurde blaß. »Zurück!« rief er. »Marsch zurück, du Mistvieh!« Doch der Löwe kroch näher. Er knabberte schon am Federbett. »Mach, daß du wegkommst!« brüllte Borgmeier.
»Er hat vor lauter Angst vergessen, daß es >Zurück, marschmarsch< heißt«, sagte Seidelbast. »Wenn es ihm nicht noch einfällt, wird er leider gefressen werden.«
»Da werd ich mal hinrennen und es dem Löwen ins Ohr schreien«, meinte Konrad und wollte zu Borgmeier hinüber.
Aber Onkel Ringelhuth hielt ihn fest und sagte: »Willst du gleich hierbleiben? Deine Eltern drehten mir den Hals um, wenn ich erzählte, daß du von einem gedachten Löwen gefressen worden wärst.«
Und auch Seidelbast riet zum Dableiben. »Es hätte keinen Zweck«, erklärte er. »Borgmeier muß selber rufen.«
Inzwischen war der Löwe aufs Bett gesprungen, trat mit den Vordertatzen Herrn Borgmeier auf den Bauch und betrachtete den Dicken gerührt. So ein fettes Frühstück war ihm lange nicht beschert gewesen. Er riß das Maul auf
»Zurück, marschmarsch!« schrie Borgmeier, und der Löwe war weg.
»Sie sind wohl nicht ganz bei Tröste?« fragte Seidelbast den schlotternden Mann. »Wenn es nicht so anstrengend wäre, würde ich mich über Sie ärgern.«
»Ich will’s bestimmt nicht wieder tun«, jammerte Borgmeier.
»Ich entziehe Ihnen für vierzehn Tage die Erlaubnis, die Versuchsstation zu betreten«, sprach der Präsident streng und ging mit den Besuchern weiter.
Plötzlich wurde Onkel Ringelhuth immer kleiner und kleiner.
»Ich werde verrückt!« rief er. »Was soll denn das bedeuten?«
Konrad lachte und rieb sich die Hände. Seidelbast lachte auch und sagte zu ihm: »Du bist eine tolle Rübe.«
Und der Onkel schrumpfte immer mehr zusammen. Jetzt war er nur noch so groß wie Konrad. Dann nur noch so hoch wie ein Spazierstock. Und schließlich war er nicht größer als ein Bleistift.
Konrad bückte sich, nahm den winzigen Onkel in die
Hand und sagte: »Ich hab mir nämlich ausgemalt, du wärest so klein wie auf der Photographie, die wir zu Hause haben.«
»Mach keine Witze«, sagte der Miniaturonkel. »Rufe sofort: Zurück, marschmarsch!« Er hob das Händchen, als wolle er dem Neffen eine Ohrfeige geben. Dabei war er nicht größer als Konrads Handfläche, auf der er stand. »Ich befehle es dir!« rief er.
Seidelbast lachte Tränen. Der Junge sagte aber zu seinem Onkeclass="underline" »Du häßlicher Zwerg!« und steckte ihn in die Brusttasche. Dort guckte Ringelhuth nun heraus, fuchtelte mit den Ärmchen und schrie so lange, bis er heiser war. Dann kam das Pferd angetrabt, und Konrad stellte es dem Präsidenten vor.
»Sehr angenehm«, sagten beide. Das Pferd lobte das Schlaraffenland über den grünen Klee. Es sei der ideale Aufenthalt für erwerbslose Zirkusgäule. Und dann fragte es: »Wo ist denn eigentlich unser Apotheker?«
Konrad wies stumm auf seine Brusttasche, und dem Pferd fiel vor Staunen fast der Strohhut vom Kopf. Nun teilte der Junge mit, wodurch der Onkel so klein geworden sei und was sie mit dem Löwen und Frau Brückners
Großvater erlebt hätten. »Oh«, sagte das Pferd, »das Rezept versuch ich auch noch. Ich möcht auf der Stelle meine vier Kugellagerrollschuhe hier haben!« Und bums, hatte es die vier Rollschuhe an den Hufen, fix und fertig angeschnallt, weil es sich das so vorgestellt hatte.
Es freute sich sehr und fuhr gleich zwei meisterhafte Rückwärtsbogen, dann eine große Acht und zum Schluß auf der rechten Hinterhand eine Pirouette. Der Anblick war ein Genuß für Kenner und Laien. Seidelbast sagte, wenn er nicht so unbändig faul wäre, würde er klatschen. Das Pferd knickste und dankte für die seiner Leistung gezollte Anerkennung.
»Mein lieber, guter Neffe«, sagte Onkel Ringelhuth, »laß mich bitte wieder aus deiner Brusttasche heraus.«
»Mein lieber, guter Onkel«, erwiderte Konrad, »ich denke ja gar nicht dran.«
»Nein?«
»Nein!«
»Also, wie du willst«, sagte der Onkel, »dafür sollst du zur Strafe ganz geschwind einen einzigartigen Wasserkopf kriegen. Und grüne Haare. Und statt der Finger zehn Frankfurter Würstchen.«
Und so geschah’s. Konrad bekam einen scheußlichen Wasserkopf mit giftgrünen Haaren obendrauf. Und an den Händen baumelten ihm zehn Frankfurter Würstchen. Das Pferd lachte und sagte: »Die reinste Schießbudenfigur!« Und Seidelbast hielt dem Jungen einen Spiegel vor, damit er sehen konnte, wie schön er geworden war. Da mußte Konrad weinen. Und Onkel Ringelhuth mußte über die zehn Frankfurter Würstchen so lachen, daß Konrads Brusttasche einen großen Riß erhielt.
Und Seidelbast meinte, sie hätten sich eher was Hübsches vorstellen und dem ändern was Gutes wünschen sollen. »Aber so sind die Menschen«, knurrte er weise. »Nun entzaubert euch gefälligst!«
Der Onkel rief also: »Zurück, marschmarsch.« Und so nahm der Neffe sein früheres Aussehen wieder an. Nun holte Konrad den Onkel aus der Brusttasche raus, setzte ihn ins Gras, rief ebenfalls: »Zurück, marschmarsch!« Und im Handumdrehen war Onkel Ringelhuth so groß wie früher.
»Photographieren hätte man euch sollen«, sagte Seidelbast, »ihr saht reichlich belemmert aus.«
»Jetzt aber fort!« meinte das Pferd und scharrte ungeduldig mit den Rollschuhen. Sie verließen also die Liegewiese, und Seidelbast brachte sie bis zur Landesgrenze.
»Haben Sie noch viel Platz im Schlaraffenland?« fragte Ringelhuth zum Abschied.
»Warum?« fragte der Präsident.
»Wir haben viele Leute bei uns, die nichts zu tun und nichts zu essen haben«, antwortete der Onkel.
»Verschonen Sie uns mit denen«, rief Seidelbast. »Die Kerle wollen ja arbeiten! So was können wir hier nicht brauchen.«
»Schade«, sagte das Pferd. Und dann reichten sie einander die Hände.
Der Onkel und Konrad setzten sich auf ihren Rollschuhgaul und fuhren unter Hallo über die Grenze. Seidelbast winkte mit dem kleinen Finger, um sich nicht zu ermüden, und rief: »Immer geradeaus!