reisen sollte, dann hätte er wenigstens Unterhaltung, wenn es gerade nichts Wichtigeres zu tun gab.
7
›Wie lustig‹, dachte der Jüngling bei sich, während er versuchte, die Szene der Beerdigung, mit der das Buch begann, noch einmal zu lesen.›Vor beinahe zwei Jahren fing ich hiermit an und kam nicht über die ersten Seiten hinaus.‹Selbst ohne einen König, der ihn unterbrach, konnte er sich nicht konzentrieren. Er war sich nämlich seines Entschlusses noch nicht ganz sicher. Aber er hatte etwas Wichtiges festgestellt: Die Entscheidungen waren nur der Anfang von etwas. Wenn man einen Entschluß gefaßt hatte, dann tauchte man damit in eine gewaltige Strömung, die einen mit sich riß, zu einem Ort, den man sich bei dem Entschluß niemals hätte träumen lassen.
›Als ich mich auf den Weg machte zu meinem Schatz, hätte ich niemals vermutet, daß ich in einem Kristallwarengeschäft arbeiten würde, dachte er und fühlte sich in seinen Überlegungen bestätigt.›Ebenso kann ich mich zwar für diese Karawane entscheiden, aber wohin sie mich führen wird, das bleibt ein Geheimnis.‹
Vor ihm saß der Europäer, der auch las. Er war unsympathisch, und er hatte ihn mit Verachtung gemustert, als er hereinkam. Sie hätten eigentlich Freunde werden können, aber der Fremde blockte die Unterhaltung ab. Der Jüngling schloß sein Buch. Er wollte nichts tun, was ihn mit dem Europäer gleich werden ließ. So nahm er Urim und Thummim aus der Tasche und begann damit zu spielen.
Da schrie der Ausländer auf: »Uriur und Thummim!«
Hastig verstaute der Jüngling die Steine.
Die sind nicht zu verkaufen!«
»Sie haben auch keinen großen Wert«, sagte der Engländer.
»Es sind nur Bergkristalle. Von diesen Gesteinen gibt es Tausende auf der Welt, aber für den Kenner sind dies Urim und Thummim. Mir war nicht bekannt, daß sie auch in dieser Gegend vorkommen.«
»Es war das Geschenk eines Königs«, sagte der Jüngling.
Da verstummte der Fremde. Dann steckte er die Hand in seine Hosentasche und zog zwei ebensolche Steine hervor.
»Du erwähntest einen König«, sagte er.
Und du glaubst nicht, daß sich ein König mit einem einfachen Hirten unterhält«, entgegnete der Jüngling und wollte hiermit das Gespräch beenden.
Ganz im Gegenteil. Die Hirten waren die ersten, die einen König erkannten, während sich die übrige Welt weigerte, ihn anzuerkennen. Darum ist es sehr wahrscheinlich, daß sich Könige mit Hirten unterhalten.«
Und aus Angst, daß ihn der Jüngling nicht verstehen würde, fügte er noch hinzu: »Das steht in der Bibel. Dem selben Buch, welches mich lehrte, Urim und Thummim zu verwenden. Diese Steine waren die einzige von Gott gebilligte Art des Wahrsagens. Die Priester trugen sie auf einem goldenen Brustpanzer.« Da war der Jüngling froh, an diesen Ort gekommen zu sein.
»Das soll vielleicht ein Zeichen sein«, sagte der Engländer mehr zu sich selbst, so als ob er laut dachte.
»Wer hat dir von Zeichen erzählt?« fragte der Jüngling mit wachsendem Interesse.
»Alles im Leben besteht aus Zeichen«, antwortete der Engländer und schlug seine Zeitschrift zu. »Das Universum besteht aus einer Sprache, die jeder verstehen kann, die wir aber verlernt haben. Nun bin ich unter anderem auf der Suche nach dieser universellen Zeichensprache. Deshalb bin ich hier. Ich muß einen Mann aufsuchen, der diese Sprache beherrscht. Einen Alchimisten.«
Die Unterhaltung wurde vom Chef des Lagerhauses unterbrochen.
»Ihr habt Glück«, sagte der dicke Araber. »Heute nachmittag zieht eine Karawane nach El-Fayum los.«
»Aber ich will nach Ägypten«, entgegnete der Jüngling.
»El-Fayum liegt doch in Ägypten«, bemerkte der Chef.
»Was bist du nur für ein Araber?«
Hierauf erwiderte der Jüngling, daß er Spanier sei. Dies erfreute den Engländer: Denn obwohl er wie ein Araber gekleidet war, so war der Jüngling doch immerhin Europäer.
»Der sagt›Glück‹, wenn er von Zeichen spricht«, bemerkte der Engländer, als der Dicke gegangen war. »Wenn ich könnte, würde ich eine große Enzyklopädie über die Worte›Glück‹und›Zufall verfassen. Denn diese Worte sind Teil der universellen Sprache.«
Danach erklärte er dem Jüngling, es sei kein Zufall, daß er ihn mit Urim und Thummim in der Hand angetroffen habe. Er fragte ihn, ob er sich auch auf der Suche nach dem Alchimisten befände.
»Ich bin auf der Suche nach einem Schatz«, antwortete der Jüngling, doch im gleichen Augenblick bereute er es. Aber der Engländer hatte es nicht beachtet.
»Ich auch, in gewisser Weise«, sagte er.
»Und eigentlich weiß ich nicht einmal, was Alchimie bedeutet«, ergänzte der Jüngling, als sie der Chef des Lagerraumes herausrief.
8
»Ich bin der Anführer der Karawane«, sagte ein Herr mit langem Bart und dunklen Augen. »Somit trage ich die Verantwortung über Leben und Tod jedes einzelnen. Denn die Wüste ist wie eine launische Frau und treibt die Menschen manchmal in den Wahnsinn.«
Es waren fast zweihundert Menschen und das Doppelte an Tieren versammelt. Es gab Kamele, Pferde, Esel und Vögel. Es gab Frauen, Kinder und einige Männer mit Säbeln am Gürtel oder langen Gewehren auf den Schultern. Der Engländer führte mehrere Kisten voller Bücher mit sich. Ein gewaltiges Gemurmel erfüllte den Platz, und der Anführer mußte seine Worte mehrmals wiederholen, bis alle sie verstanden.
»Hier gibt es die unterschiedlichsten Menschen, die verschiedene Götter in ihren Herzen verehren. Aber mein einziger Gott ist Allah, und bei ihm schwöre ich, daß ich mein möglichstes tun und mein Bestes geben werde, um auch diesmal die Wüste wieder zu bezwingen. Nun möchte ich, daß jeder von euch im Namen seines Gottes schwört, daß er mir unter allen Umständen bedingungslos gehorchen wird. Denn in der Wüste kann Ungehorsam den Tod bedeuten.« Ein allgemeines Gemurmel setzte ein, denn ein jeder schwor Gehorsam im Namen seines Gottes. Der Jüngling schwor bei Jesus Christus. Der Engländer schwieg. Das Gemurmel hielt noch eine Weile an, weil die Leute auch um den Schutz des Himmels baten.
Dann ertönte ein langer Hornton, und jeder bestieg sein Tier.
Sowohl der Jüngling als auch der Engländer hatten sich Kamele zugelegt und bestiegen sie mit einiger Mühe. Dem Jüngling tat das Kamel des Engländers leid, weil es mit schweren Bücherkisten beladen war.
»Es gibt keine Zufälle«, sagte der Engländer und versuchte das Gespräch aus dem Lagerraum fortzusetzen. »Es war ein Bekannter, der mich hierherführte, weil er einen Araber kannte, der...«
Aber die Karawane setzte sich in Bewegung, so daß es unmöglich wurde, den Engländer zu verstehen. Doch der Jüngling wußte, um was es sich
handelte: die geheimnisvolle Kette, in der ein Ereignis mit dem nächsten zusammenhing, die ihn Hirte werden und ihn dann den gleichen Traum mehrmals träumen ließ, die ihn in eine Stadt nahe bei Afrika führte, um einem König zu begegnen, die bewirkte, daß man ihn beraubte, damit er einen Kristallwarenhändler kennenlernte, um dann...
›Je näher man an seinen Traum herankommt, um so mehr wird der persönliche Lebensweg zum eigentlichen Lebensziel, dachte der Jüngling.
9
Die Karawane machte sich in Richtung Sonnenaufgang auf den Weg. Sie reiste vormittags, machte Pause, wenn die Sonne am höchsten stand, und zog nachmittags weiter. Der Jüngling unterhielt sich wenig mit dem Engländer, da dieser die meiste Zeit mit seinen Büchern beschäftigt war.
So begann er, schweigend den Marsch der Tiere und der Menschen durch die Wüste zu beobachten. Jetzt war alles ganz anders als am Tag der Abreise: An jenem Tag war ein heilloses Durcheinander und Geschrei; Kinderweinen und das Schreien der Tiere vermischten sich mit den nervösen Anordnungen der Führer und der Händler.