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Er nahm seine Bücher wieder an sich und verstaute sie in den Packtaschen seines Kamels.

»Geh du nur zu deiner Karawane zurück. Sie hat mich ihrerseits auch nichts weiter gelehrt«, sagte er.

Der Jüngling genoß die Stille der Wüste und betrachtete den von den Tieren aufgewirbelten Sand.›Jeder lernt auf seine Weise‹, sagte er sich innerlich.›Seine Art ist nicht die meine, und meine Art nicht die seine. Aber beide suchen wir unseren Lebensweg, und deshalb achte ich ihn.‹

14

Mittlerweile reiste die Karawane bei Tag und bei Nacht.

Ständig tauchten die in Kapuzen gehüllten Kuriere auf, und der Kameltreiber, mit dem er sich angefreundet hatte, erklärte, daß der Krieg zwischen den Stämmen begonnen hatte. Sie brauchten viel Glück, um die Oase heil zu erreichen.

Die Tiere waren erschöpft, und die Menschen wurden immer stiller. Die Stille war bei Nacht am schlimmsten, und schon der Schrei eines Kamels - der vorher nichts weiter als ein Kamelschrei gewesen war - erschreckte alle, da es ein Zeichen für den Angriff sein konnte.

Der Kameltreiber schien von der Kriegsbedrohung jedoch nicht sonderlich beeindruckt.

»Ich lebe«, sagte er dem Jüngling, während er sich einen Teller Datteln schmecken ließ, in einer Nacht ohne Lagerfeuer und ohne Mondschein. »Während ich esse, tue ich nichts weiter als essen. Wenn ich laufe, dann mache ich nichts außer laufen.

Und wenn ich kämpfen muß, dann wird es ein ebenso guter Tag sein zum Sterben wie jeder andere. Denn ich lebe weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft. Ich habe nur die Gegenwart, und nur diese interessiert mich. Wenn du immer in der Gegenwart bleiben kannst, dann bist du ein glücklicher Mensch.

Dann wirst du bemerken, daß die Wüste lebt, daß der Himmel voller Sterne ist, und daß die Krieger kämpfen, weil dies eine Eigenschaft der menschlichen Rasse ist. Dann wird das Leben zu einem großen Schauspiel, zu einem Fest, denn es ist immer und ausschließlich der Moment, den wir gerade erleben. «

Zwei Nächte danach, als sie sich zum Schlafen vorbereiteten, sah der Jüngling nach dem Stern, der sie geleitet hatte. Er bemerkte überrascht,

daß der Horizont tiefer zu liegen schien, denn über der Wüste standen Hunderte von Sternen.

»Das ist die Oase«, erklärte der Kameltreiber.

»Und warum gehen wir nicht sofort dorthin?«

»Weil wir schlafen müssen.«

15

Als die Sonne am Horizont auftauchte, öffnete der Jüngling die Augen. Dort, wo vorige Nacht die kleinen Sterne geleuchtet hatten, erstreckte sich den Horizont entlang eine endlose Reihe von Dattelpalmen.

»Wir haben es geschafft«, meinte der Engländer, der auch gerade aufgewacht war, erleichtert.

Der Jüngling schwieg. Er hatte das Schweigen der Wüste gelernt und begnügte sich damit, die Palmen am Horizont zu betrachten. Bis zu den Pyramiden mußte er noch einen weiten Weg zurücklegen, und eines Tages würde dieser Morgen nur mehr eine Erinnerung sein. Aber jetzt war er der gegenwärtige Augenblick, das Schauspiel, wovon der Kameltreiber gesprochen hatte, und er versuchte, ihn auszukosten, im Verein mit den Lehren aus der Vergangenheit und den Träumen für seine Zukunft. Eines Tages würden diese Tausende von Dattelpalmen nur noch eine Erinnerung sein, aber in diesem Moment bedeuteten sie ihm Schatten, Wasser und einen Zufluchtsort vor dem Krieg. So, wie sich das Schreien eines Kamels in eine Gefahr verwandeln konnte, so konnte der Palmenhain ein Wunder bedeuten.

›Die Welt spricht viele Sprachen‹, dachte der Jüngling.

16

›Je schneller die Zeitläufte, desto schneller die Karawanen‹, dachte der Alchimist, während er Hunderte von Menschen und Tieren in der Oase ankommen sah. Die Bewohner liefen den Neuankömmlingen laut rufend entgegen, während der aufgewirbelte Staub die Wüstensonne verdeckte und die Kinder aufgeregt umhersprangen, als sie die Fremden sahen. Der Alchimist beobachtete, wie die Stammesoberhäupter sich dem Anführer der Karawane näherten und sie sich lange miteinander unterhielten.

Aber das alles interessierte den Alchimisten wenig. Er hatte schon viele Menschen ankommen und wieder abreisen sehen, während die Oase und die Wüste immer dieselben blieben. Er hatte Könige und Bettler diesen Sand durchwandern sehen, der wegen des Windes laufend seine Form veränderte, aber dennoch immer derselbe blieb, den er schon aus seiner Kindheit kannte.

Trotzdem konnte er nicht umhin, in der Tiefe seines Herzens ein wenig jene Freude am Leben nachzuempfinden, die jeden Reisenden befällt, wenn er nach gelbem Sand und blauem Himmel endlich die grünen Palmen vor seinen Augen auftauchen sieht.›Vielleicht erschuf Gott die Wüste nur, damit sich die Menschen an den Dattelpalmen erfreuen sollen, dachte er.

Dann beschloß er, sich wieder auf praktische Dinge zu konzentrieren. Er wußte, daß in dieser Karawane ein Mann anreiste, dem er einen Teil seiner Geheimnisse anvertrauen sollte. Die Zeichen hatten es ihm bereits angekündigt. Er kannte diesen Mann zwar noch nicht, doch seine erfahrenen Augen würden ihn sogleich erkennen, wenn er ihn zu Gesicht bekam.

Er hoffte, daß er auch so ein gelehriger Schüler sein würde wie der vorherige.

›Ich weiß nicht, wozu man diese Dinge mündlich weitergeben soll‹, überlegte er.›Gott enthüllt seine Geheimnisse all seinen Kreaturen reichlich.‹

Er hatte nur eine Erklärung dafür: Diese Dinge mußten so vermittelt werden, weil sie aus aktivem Leben bestanden und diese Art des Lebens schlecht durch Bilder oder Schriften vermittelt werden konnten. Denn die Menschen lassen sich allzuleicht von Bildern und Büchern faszinieren und vergessen dabei, auf die Sprache der Welt zu achten.

17

Sämtliche Neuankömmlinge wurden sogleich den Stammesoberhäuptern von El-Fayum vorgeführt. Der Jüngling mochte seinen Augen nicht trauen: Die Oase war gar kein von ein paar Palmen umgebenes Wasserloch - wie er es einst in einem Geschichtsbuch gelesen hatte -, sondern viel größer als manches Dorf in Spanien. Es gab dreihundert Brunnen, fünfzigtausend Dattelpalmen und dazwischen viele bunte Zelte.

»Es sieht wie in Tausendundeine Nacht aus«, bemerkte der Engländer, der es kaum erwarten konnte, den Alchimisten aufzusuchen.

Bald wurden sie von den Kindern umzingelt, die die Tiere und die Fremden neugierig beobachteten. Die Männer wollten gleich wissen, ob sie irgendwelche Kämpfe gesehen hätten, während die Frauen sich die Stoffe

und Steine streitig machten, welche die Händler mitgebracht hatten. Die Stille der Wüste war wie ein ferner Traum; die Menschen redeten ohne Unterlaß, lachten und schrien, als seien sie aus einer Geisterwelt wieder in die Menschenwelt zurückgekehrt. Sie waren glücklich und zufrieden.

Obwohl sie sich ja bereits vorher in acht genommen hatten, erklärte der Kameltreiber dem Jüngling nun, daß eine Oase inmitten der Wüste immer als neutraler Ort gelte, da die Bevölkerung überwiegend aus Frauen und Kindern bestand.

Und es gab Oasen beiderseits der Fronten, so daß die Krieger im Sand der Wüste kämpften und die Oase als Zufluchtsort betrachteten.

Der Anführer der Karawane trommelte alle mit einiger Mühe zusammen und begann die Anweisungen zu erteilen. Sie würden hierbleiben, bis der Krieg zwischen den Stämmen beendet sei.

Als Besucher sollten sie die Zelte mit den Oasenbewohnern teilen, die ihnen die besten Plätze überlassen würden. Das forderte das Gebot der Gastfreundschaft. Danach bat er alle Männer, auch seine Wächter, ihre Waffen den von den Stammesoberhäuptern bestimmten Männern auszuhändigen.