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»Das wäre auch egal«, sagte der Jüngling laut zu seinen Schafen, »schließlich kenne ich ja noch andere Mädchen in anderen Städten.«

Aber im Grunde seines Herzens wußte er sehr wohl, daß es ihm doch nicht egal war. Und daß sowohl Hirten als auch Matrosen oder Handlungsreisende immer irgendeinen Ort kannten, wo es jemanden gab, bei dem sie die Freude vergaßen, frei durch die Welt zu reisen.

4

Der Tag brach an, und der Hirte trieb seine Schafe in Richtung Sonnenaufgang.

›Die brauchen nie selber eine Entscheidung zu fällen‹, dachte er.›Vielleicht sind sie deshalb so anhänglich.‹

Das einzige Bedürfnis, das die Schafe haben, ist fressen und trinken. Solange man sie auf die sattesten Wiesen von Andalusien führt, so lange werden sie immer deine Freunde sein. Selbst wenn ein Tag dem anderen gleicht, mit eintönigen Stunden, die sich zwischen Sonnenaufgang und - unterganz dahinschleppen, selbst wenn sie in ihrem kurzen Leben nie ein Buch lesen werden und die Sprache der Menschen nie verstehen, die sich die Neuigkeiten aus den Ortschaften erzählen. Sie sind zufrieden mit Wasser und Nahrung, und das genügt. Als Gegenleistung bieten sie großzügig ihre Gesellschaft, ihre Wolle und manchmal sogar ihr Fleisch.

›Wenn ich mich plötzlich in eine Bestie verwandeln würde und eines nach dem anderen abschlachtete, so würden sie es wohl erst bemerken, wenn ihre Herde schon so gut wie ausgerottet ist‹, dachte der Jüngling.›Denn sie vertrauen mir blindlings und vertrauen nicht länger auf ihren eigenen Instinkt.

Nur, weil ich sie zu den grünen Auen und frischem Wasser leite.‹

Der junge Mann wunderte sich über seine eigenen Gedanken.

Vielleicht war diese alte Kirche mit dem Maulbeerbaum irgendwie verhext gewesen. Immerhin war sie daran schuld, daß er einen Traum zum zweiten Mal träumte, und mit einemmal Wut gegenüber seinen so treuen Gefährten empfand. Er trank einen Schluck Wein, der noch vom Abendbrot übriggeblieben war, und preßte seinen Mantel gegen den Leib. Es war ihm klar, daß es in einigen Stunden, wenn die Sonne senkrecht stand, zu heiß sein würde, um seine Schafe über die Felder zu führen. Es war die Tageszeit, wo während des Sommers ganz Spanien Siesta machte. Die Hitze hielt bis in die Abendstunden an, und die ganze Zeit über mußte er seinen Mantel mitschleppen. Aber jedesmal, wenn er sich über die Last beklagen wollte, fiel ihm wieder ein, daß er es diesem verdankte, wenn er morgens nicht zu frieren brauchte.

›Auf die Launen des Wetters müssen wir immer vorbereitet sein‹, dachte er und freute sich über das Gewicht des Mantels.

So hatte sein Mantel einen Sinn, wie sein Leben auch einen hatte. Nach zwei Jahren kannte er nun schon alle Städte Andalusiens auswendig, und der große Sinn seines Lebens war: zu reisen. Er nahm sich vor, diesmal dem Mädchen zu erklären, warum ein einfacher Hirte lesen konnte: Bis zu seinem sechzehnten Lebensjahr hatte er eine Klosterschule besucht, und seine Eltern wünschten, daß er Priester würde, worauf eine einfache Bauernfamilie Grund hatte, stolz zu sein. Denn auch sie hatten bisher nur für Nahrung und Wasser gelebt, wie seine Schafe. So erhielt er Unterricht in Latein, Spanisch und Theologie. Aber seit seiner Kindheit träumte er davon, die weite Welt kennenzulernen, und das schien ihm viel wichtiger, als Gott und die Sünden der Menschen kennenzulernen. Eines Nachmittags, als er seine Eltern besuchte, faßte er sich ein Herz und verkündete seinem Vater, daß er kein Priester werden, sondern reisen wolle.

5

»Menschen aus der ganzen Welt kamen schon durch diesen Ort, mein Sohn«, sagte damals sein Vater. »Sie kommen auf der Suche nach neuen Dingen, aber sie bleiben dabei dieselben. Sie gehen auf den Hügel, um die Burg zu besichtigen, und glauben, daß die Vergangenheit besser war als die Gegenwart. Sie haben blonde Haare oder dunkle Haut, aber im Grunde sind sie alle so wie die Leute in unserem Ort.«

»Aber ich kenne nicht die Burgen in ihren Ländern«, entgegnete der Jüngling.

»Wenn sie unsere Gegend und unsere Frauen kennenlernen, dann sagen diese Männer, daß sie für immer hierbleiben möchten«, fuhr sein Vater fort.

»Auch ich würde gerne die Frauen und die Länder kennenlernen, aus denen sie kommen«, bekannte der Jüngling.

»Denn hierbleiben tun sie doch nie.« »Diese Männer haben die Taschen voll Geld«, sagte wieder der Vater. »Bei uns reisen nur die Hirten.«

»Dann werde ich Hirte.«

Darauf entgegnete der Vater nichts mehr. Am folgenden Tag gab er ihm eine Geldbörse mit drei alten spanischen Goldmünzen.

»Das fand ich vor längerer Zeit auf dem Feld. Es sollte eigentlich für deine Aufnahme in die Kirche dienen. Kauf dir eine Herde davon und ziehe durch die Welt, bis du lernst, daß unsere Burg das wichtigste ist und unsere Frauen die schönsten sind.« Und er gab ihm seinen Segen. In den Augen des Vaters konnte er den Wunsch lesen, auch in die weite Welt hinauszuziehen. Eine Sehnsucht, die immer noch in ihm lebte, trotz der Jahrzehnte, in denen er versucht hatte, sie über Wasser und Nahrung und einem festen Platz zum Schlafen zu vergessen.

6

Der Horizont färbte sich rot, und die Sonne ging auf. Der Jüngling erinnerte sich jetzt an diese Unterhaltung mit seinem Vater und fühlte sich glücklich; er hatte inzwischen schon viele Burgen und viele Frauen kennengelernt - aber keine wie jene, die ihn in einigen Tagen erwartete. Er besaß einen Mantel, ein Buch, das er gegen ein anderes eintauschen konnte, und eine Schafherde. Das Wichtigste aber war, daß er jeden Tag den Traum seines Lebens verwirklichen konnte: zu reisen. Wenn er die Weiten von Andalusien satt hätte, könnte er seine Schafe verkaufen und Seemann werden. Wenn er vom Meer genug hätte, könnte er all die Städte, die Frauen und all die Möglichkeiten zum Glücklichsein kennenlernen.

›Ich kann nicht verstehen, wie man Gott in einem Priesterseminar finden soll‹, dachte er, während er die aufgehende Sonne beobachtete. Wenn möglich, suchte er sich immer neue Wege. Nie zuvor war er in jener verlassenen Kirche gewesen, obwohl er schon öfter hier vorbeigezogen war.

Die Welt war groß und unerschöpflich, und wenn er seinen Schafen erlauben würde, ihn ein wenig zu führen, so würde er sicherlich noch mehr Interessantes entdecken.

›Ihr Problem ist, daß sie gar nicht bemerken, wie sie täglich neue Wege beschreiten. Sie werden sich nicht bewußt, daß die Wiesen wechseln und auch die Jahreszeiten, weil sie einzig mit Wasser und Nahrung beschäftigt sind. Aber vielleicht geht es uns genauso‹, dachte der Hirte.›Sogar ich denke an keine andere Frau mehr, seit ich die Tochter des Händlers kennengelernt habe.‹

Er sah gen Himmel und schätzte, daß er noch vor dem Mittag in Tarifa eintreffen würde. Dort konnte er sein Buch gegen ein dickeres eintauschen, seine Weinflasche nachfüllen, sich rasieren und sich die Haare schneiden lassen; er wollte schließlich vorbereitet sein für die Begegnung mit dem Mädchen und mochte gar nicht daran denken, daß womöglich ein anderer Schäfer mit einer größeren Herde vor ihm dagewesen war und um ihre Hand angehalten hatte.

›Erst die Möglichkeit, einen Traum zu verwirklichen, macht unser Leben lebenswert‹, überlegte er, während er nochmals zum Himmel aufschaute und seine Schritte beschleunigte. Ihm war nämlich gerade eingefallen, daß es in Tarifa eine Alte gab, die Träume deuten konnte. Und vergangene Nacht hatte er einen wiederkehrenden Traum gehabt.

7

Die Alte führte den Besucher zu einem Raum im hinteren Teil des Hauses, der vom Wohnzimmer durch einen Vorhang aus bunten Plastikstreifen abgetrennt war. Dort gab es einen Tisch, zwei Stühle und ein Bildnis von Jesus von Nazareth.