Doch das Schwert fuhr nicht auf ihn hernieder.
Die Hand des Fremden mit dem Schwert senkte sich langsam herunter, bis die Spitze der Klinge die Stirne des Jünglings berührte. Sie war so scharf, daß ein Blutstropfen heraustrat. Der Reiter blieb unbeweglich. Der Jüngling ebenfalls. Der Gedanke an Flucht kam ihm gar nicht. In seinem Herzen regte sich eine seltsame Freude: Er würde für seine innere Bestimmung sterben.
Und für Fatima. Also hatten die Zeichen nicht getrogen. Hier war nun der Feind, und er brauchte keine Angst vor dem Tod zu haben, denn es gab eine Wellenseele. Bald würde er ein Teil von ihr sein. Und morgen schon würde der Feind auch ein Teil davon sein.
Der Fremde hielt immer noch die Spitze des Schwertes auf seine Stirn.
»Wieso hast du den Flug der Vögel gedeutet?«
»Ich habe nur gelesen, was die Vögel mitteilen wollten. Sie möchten die Oase retten, und ihr werdet sterben. Die Oase hat mehr Männer, als ihr es seid.«
Die Schwertspitze berührte weiter seine Stirn.
»Wer bist du, um das.von Allah bestimmte Schicksal ändern zu wollen?«
»Allah hat die Heere gemacht und auch die Vögel. Allah hat mir die Sprache der Vögel gezeigt. Alles wurde von der gleichen Hand geschrieben«, sagte der Jüngling, der Worte des Kameltreibers eingedenk.
Endlich entfernte der Reiter das Schwert von seiner Stirn. Der Jüngling fühlte sich erleichtert, aber er vermochte nicht zu fliehen.
»Sei vorsichtig mit den Vorhersagen«, sagte der Fremde.
»Wenn die Dinge geschrieben stehen, dann kann man sie nicht verhindern.«
»Ich sah lediglich ein Heer, aber nicht den Ausgang einer Schlacht«, entgegnete der Jüngling.
Nun schien der Reiter zufrieden mit der Antwort. Aber er hielt das Schwert noch immer in der Hand.
»Was treibt ein Fremder in einem fremden Land?«
»Ich bin auf der Suche nach meinem persönlichen Lebensweg. Doch das kannst du nicht verstehen.«
Der Reiter steckte sein Schwert wieder in die Scheide, und der Falke auf seiner Schulter stieß einen eigenartigen Schrei aus.
Der Jüngling begann sich zu entspannen.
»Ich mußte nur deinen Mut prüfen«, sagte der Fremde. »Denn Mut ist die wichtigste Gabe für denjenigen, der die Sprache der Welt sucht.«
Der Jüngling war überrascht. Dieser Mann sprach von Dingen, die nur wenige kannten.
»Man darf nie erschlaffen, selbst wenn man schon so weit gekommen ist«, fuhr er fort. »Man muß die Wüste lieben, darf ihr aber nie ganz vertrauen. Denn die Wüste bedeutet für jeden eine Prüfung: Sie tötet den, der sich ablenken läßt und nicht jeden Schritt überlegt.«
Seine Worte erinnerten an die Worte des alten Königs.
»Wenn die Krieger kommen und dein Kopf bei Sonnenuntergang noch auf deinen Schultern sitzt, dann besuche mich«, sagte der Fremde.
Dieselbe Hand, die das Schwert geschwungen hatte, schwang jetzt eine Peitsche. Das weiße Pferd bäumte sich wieder auf und wirbelte eine Sandwolke auf. »Wo wohnst du?« rief der Jüngling hinter dem entschwindenden Reiter her. Die Hand mit der Peitsche zeigte gen Süden. Der Jüngling war dem Alchimisten begegnet.
21
Am nächsten Morgen gab es zweitausend bewaffnete Männer unter den Palmen von El-Fayum. Noch bevor die Sonne senkrecht stand, tauchten fünfhundert Krieger am Horizont auf.
Die Reiter kamen aus nördlicher Richtung in die Oase, sie wirkten wie eine friedliche Expedition, aber unter ihren weißen Gewändern hielten sie Waffen verborgen. Als sie in die Nähe des großen Zeltes im Zentrum von El-Fayum kamen, zogen sie ihre Krummsäbel und Gewehre hervor und griffen ein leeres Zelt an.
Die Wüstenmänner umzingelten die Krieger. Innerhalb einer halben Stunde lagen vierhundertneunundneunzig Körper verstreut auf dem Wüstenboden. Die Kinder befanden sich am anderen Ende des Dattelhaines und sahen nichts. Die Frauen beteten in den Zelten für ihre Männer und konnten ebenfalls nichts sehen. Wenn nicht die toten Körper herumgelegen wären, hätte es ein ganz gewöhnlicher Tag sein können.
Nur ein einziger Krieger blieb verschont: der Befehlshaber der Angreifenden. Nachmittags wurde er den Stammesoberhäuptern vorgeführt, die ihn fragten, warum er mit der Tradition gebrochen habe. Der Befehlshaber antwortete, daß seine Männer hungrig und durstig waren und erschöpft von so vielen Kampftagen, so daß sie eine Oase einnehmen wollten, um den Kampf fortsetzen zu können.
Das führende Stammesoberhaupt erklärte, daß es ihm um die Krieger leid täte, aber daß eine Tradition niemals gebrochen werden dürfe. Das einzige, was sich in der Wüste wandle, seien die Dünen, wenn der Wind wehe.
Danach wurde der Befehlshaber zu einer ehrenlosen Hinrichtung verurteilt. Nicht durch eine Gewehrkugel oder durch ein Schwert wurde er getötet, sondern an einer abgestorbenen Dattelpalme aufgeknüpft. Sein Körper schwankte im Wüstenwind.
Das Stammesoberhaupt ließ den Jüngling rufen und überreichte ihm fünfzig Goldstücke. Der Anführer wiederholte die Geschichte von Josef in Ägypten und bat den Jüngling, zum offiziellen Berater in der Oase zu werden.
22
Als die Sonne untergegangen war und die ersten Sterne erschienen - sie leuchteten sehr schwach, weil Vollmond war -, ging der Jüngling in Richtung Süden. Dort gab es nur ein Zelt, und die vorbeikommenden Araber sagten, daß dieser Ort voller Dschinns sei. Aber der Jüngling setzte sich auf einen Stein und wartete.
Der Alchimist erschien erst, als der Mond schon hoch am Himmel stand. Er trug zwei tote Sperber über der Schulter.
»Hier bin ich«, sagte der Jüngling.
»Du solltest dich hier nicht aufhalten«, antwortete der Alchimist. »Oder hat dein persönlicher Lebensweg dich an diesen Ort geführt?«
»Es ist Krieg zwischen den Stämmen. Es ist nicht möglich, die Wüste zu durchqueren.«
Da stieg der Alchimist vom Pferd und bedeutete dem Jüngling mit einer Geste, ihm ins Zelt zu folgen. Es war ein Zelt wie jedes andere in der Oase - mit Ausnahme des großen Zentralzeltes, mit seinem Luxus wie aus dem Märchenbuch. Er hielt nach dem Schmelzofen, den Phiolen und Tiegeln Ausschau, fand jedoch nichts. Es gab nur ein paar aufgestapelte Bücher, einen Kochherd und Teppiche voll rätselhafter Zeichnungen.
»Setz dich, ich werde uns einen Tee machen«, sagte der Alchimist. »Und dann lassen wir uns die Sperber schmecken.«
Der Jüngling hatte den Verdacht, daß es sich um dieselben Vögel handelte, die er am Vortag gesehen hatte, er sagte jedoch nichts. Der Alchimist machte Feuer, und in kurzer Zeit war das ganze Zelt mit einem herrlichen Geruch nach gebratenem Fleisch erfüllt. Es war ein noch angenehmerer Duft als der der Wasserpfeifen.
»Warum wolltest du mich sehen?« fragte der Jüngling.
»Wegen der Zeichen. Der Wind hat mir dein Kommen angekündigt. Und daß du Hilfe brauchen würdest.«
»Das bin nicht ich. Das ist der andere, der Engländer.
»Der hat dich gesucht.«
»Der muß vorher noch andere Dinge finden, bevor er mich findet Aber er ist bereits auf dem richtigen Pfad Er hat begonnen, die Wüste zu betrachten«
»Und ich?«
»Wenn man etwas will, dann wirkt das ganze Universum darauf hin, daß die Person ihren Traum verwirklichen kann«, sagte der Alchimist, indem er die Worte des alten Königs wiederholte Der Jüngling verstand Hier war wieder ein Mann auf seinem Weg, der ihn seiner inneren Bestimmung näher bringen würde
»Wirst du mich unterrichten?«
»Nein Denn du weißt schon alles, was du brauchst Ich werde dich nur in Richtung deines Schatzes leiten«
»Es ist Krieg«, wiederholte der Jüngling
»Ich kenne die Wüste« »Ich habe meinen Schatz bereits gefunden Ich besitze ein Kamel, das Geld aus dem Kristallwarengeschäft und fünfzig Goldmünzen Damit kann ich in meinem Land ein reicher Mann sein«