»Du hättest sterben können, wenn wieder Frieden herrscht. Aber irgendwann wärst du sowieso gestorben.«
Am Abend suchte der Jüngling den Alchimisten auf Dieser brachte gerade seinen Falken in die Wüste.
»Ich kann mich nicht in Wind verwandeln«, wiederholte der Jüngling.
»Denk daran, was ich dir gesagt habe: Die Welt ist nur der sichtbare Teil von Gott. Die Alchimie ist dafür zuständig, daß sich die geistige Vollkommenheit auf das Stoffliche überträgt.«
»Was machst du hier?«
»Meinem Falken Nahrung geben.«
»Wozu? Wenn ich mich nicht in Wind verwandeln kann dann sterben wir alle drei«, meinte der Jüngling. »Wozu noch dem Falken Futter geben?«
»Nur du wirst sterben«, entgegnete der Alchimist. »Dem ich kann mich in Wind verwandeln.«
29
Am zweiten Tag stieg der Jüngling auf einen hohen Felsen, der sich in der Nahe des Lagers befand. Die Wächter ließen ihn vorbei; sie hatten schon von dem Zauberer gehört, der sich in Wind verwandeln könne, und wollten ihm nicht zu nahe kommen. Außerdem war die Wüste wie eine unbezwingbare Mauer.
Er blieb den Rest des zweiten Tages dort oben sitzen, blickte in die Wüste und lauschte der Stimme seines Herzens - und die Wüste lauschte seiner Angst. Beide sprachen sie die gleiche Sprache.
30
Am dritten Tag versammelte der oberste Kriegsherr seine Heerführer um sich.
»Nun laß uns sehen, wie sich der Bursche in Wind verwandelt«, sagte er, an den Alchimisten gewandt.
»Wir werden sehen«, antwortete der Alchimist.
Der Jüngling brachte sie an den Ort, wo er am vorherigen Tag gewesen war. Dann bat er alle, sich zu setzen.
»Es wird eine Weile dauern«, sagte er.
»Wir haben keine Eile«, erwiderte der Anführer. »Wir sind Männer der Wüste.«
31
Der Jüngling blickte sich um. Es waren Berge in der Ferne um ihn Dünen, Felsen und Kriechgewächse, die zu leben versuchten, wo das Überleben unmöglich schien. Hier lag die Wüste vor ihm, die er während vieler Monate durchquert und dennoch nur zu einem ganz kleinen Teil kennengelernt hatte. In dieser Zeit waren ihm ein Engländer, Karawanen, Stammeskriege, eine Oase mit fünfzigtausend Dattelpalmen und dreihundert Brunnen begegnet.
»Was willst du heute schon wieder hier?« fragte die Wüste.
»Haben wir uns gestern nicht genug betrachtet?« »Irgendwo bewahrst du die Frau in dir, die ich liebe« sagte der Jüngling. »Wenn ich also deine Weite betrachte dann betrachte ich auch sie. Ich möchte zu ihr zurückkehren und brauche deine Hilfe, um mich in Wind zu verwandeln.«
»Was ist Liebe?« wollte die Wüste wissen.
»Liebe ist, wenn der Falke über deinen Sand fliegt. Denn für ihn bist du ein fruchtbares Feld, und er kommt nie ohne Beute zurück. Er kennt deine Felsen, deine Dünen und deine Berge, und du bist großzügig zu ihm.«
»Falken berauben mich«, entgegnete die Wüste. »Jahre lang ziehe ich ihre Beute auf, tränke sie mit dem wenigen Wasser, das ich habe, und zeige ihr, wo es Nahrung gibt Und eines Tages schießt der Falke vom Himmel, gerade wenn das Wild meinen Boden zart zu durchstreifen beginnt. Und er entführt das, was ich großgezogen habe.«
»Aber dafür hast du die Beute schließlich aufgezogen«
entgegnete der Jüngling. »Um den Falken zu ernähren. Und der Falke ernährt seinerseits den Menschen. Und der Mensch wiederum wird eines Tages deinen Boden nähren, aus dem dann wieder die Beute hervorgeht. Das ist der Lauf der Welt.«
»Und das soll die Liebe sein?«
»Ja, das ist die Liebe. Sie verwandelt die Beute in den Falken, den Falken in den Menschen und diesen wieder in Wüste. Sie bewirkt, daß das Blei sich in Gold verwandelt und das Gold sich wieder in der Erde verbirgt.«
»Ich verstehe deine Worte nicht«, meinte die Wüste.
»Dann versuche zu verstehen, daß irgendwo in deinen Dünen eine Frau auf mich wartet. Und dafür muß ich mich in Wind verwandeln.«
Die Wüste schwieg einen Moment.
»Ich gebe dir meinen Sand, damit der Wind hineinblasen kann. Aber alleine kann ich nichts tun. Bitte den Wind um Hilfe.«
Eine kleine Brise begann zu wehen. Die Heerführer schauten zum Jüngling hinüber, der eine Sprache sprach, die sie nicht kannten. Der Alchimist lächelte. Der Wind strich über das Gesicht des Jünglings. Er hatte seiner Unterhaltung mit der Wüste gelauscht, denn die Winde wissen immer alles. Sie ziehen durch die Welt, ohne einen festen Ort zu haben, wo sie geboren werden oder wo sie sterben.
»Hilf mir«, bat der Jüngling. »Kürzlich vernahm ich in dir die Stimme meiner Geliebten.«
»Wer hat dich gelehrt, die Sprache der Wüste und des Windes zu sprechen?«
»Mein Herz«, erwiderte der Jüngling.
Der Wind besaß viele Namen. Hier nannte man ihn Schirokko, und die Araber glaubten, daß er aus einem mit viel Wasser bedeckten Land komme, in welchem schwarz Menschen lebten. In dem fernen Land, aus dem der Jüngling kam, nannte man ihn den Wind der Levante, denn man glaubte dort, daß er den Sand der Wüste und die Kriegsrufe der Mauren brachte.
Und vielleicht meinte man an einer weit von seinen ehemaligen Schafsweiden entfernten Ort daß der Wind aus Andalusien käme. Aber der Wind kam von nirgendwoher und kehrte auch nirgendwohin zurück und deshalb war er stärker als die Wüste.
Eines Tages würde man in der Wüste vielleicht Bäume pflanzen und Schaf züchten können, aber niemals würde man den Wind beherrschen.
»Du kannst nicht zu Wind werden, denn wir sind von unterschiedlicher Natur«, sagte der Wind.
»Das stimmt nicht«, entgegnete der Jüngling. »Ich hab die Geheimnisse der Alchimie entdeckt, während ich durch die Welt zog. Ich habe die Winde, die Wüsten, die Ozeane die Sterne in mir und alles, was es im Universum gibt. Wir wurden durch dieselbe Hand erschaffen und haben die gleiche Seele. Ich möchte wie du sein, in alle Winkel eindringen, die Meere überqueren, den Sand, der meinen Schatz zudeckt, fortwehen und die Stimme meiner Geliebten herbei holen.«
»Ich habe dein Gespräch mit dem Alchimisten vor ein paar Tagen gehört«, sagte der Wind. »Er meinte, daß jedes Ding seinen persönlichen Lebensplan hat. Die Mensche können sich nicht in Wind verwandeln.«
»Lehre mich nur für einige Augenblicke, Wind zu werden, damit wir uns über die unbegrenzten Möglichkeiten der Menschen und der Winde unterhalten können«, bat der Jüngling.
Eigentlich war der Wind recht neugierig, und er hätte sich gerne darüber unterhalten, aber er konnte keinen Menschen in Wind verwandeln, obwohl er doch so vieles konnte! Er schuf Wüsten, versenkte Schiffe, fegte ganze Wälder um und durchstreifte Städte voller Musik und seltsamer Geräusche. Er glaubte, alles zu können, doch nun war hier ein junger Bursche, der behauptete, daß es noch mehr gab, was ein Wind vermochte.
»Das nennt man Liebe«, sagte der Jüngling, als er bemerkte, daß der Wind seinem Wunsch beinahe nachgab. »Wenn man liebt, kann man alles in der Schöpfung sein. Wenn man liebt, ist es nicht notwendig, zu verstehen, was vor sich geht, denn alles spielt sich in uns selber ab, und Menschen können sich in Wind verwandeln. Natürlich nur, wenn dieser dabei behilflich ist.«
Der Wind war sehr stolz, und es mißfiel ihm, was der Jüngling da sagte. Er blies mit größerer Geschwindigkeit und wühlte den Wüstensand auf. Aber schließlich mußte er sich eingestehen, daß er, obwohl er die ganze Welt durchquert hatte, nicht wußte, wie man Menschen in Wind verwandeln konnte - und er kannte die Liebe nicht.
»Während ich durch die Welt zog, habe ich bemerkt, daß viele Menschen, die von Liebe sprachen, dabei zum Himmel aufsahen«, bemerkte der Wind gereizt, weil er seine Grenzen anerkennen mußte. »Vielleicht solltest du lieber den Himmel befragen.«