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Die Alte nahm Platz und forderte ihn auf, es ihr nachzutun.

Dann ergriff sie beide Hände des Jünglings und begann, leise murmelnd zu beten. Es klang nach einem Zigeunergebet. Er war schon etlichen Zigeunern auf seinem Weg begegnet; sie reisten, auch ohne Schafe zu hüten. Die Leute behaupteten, daß das Leben eines Zigeuners darauf ausgerichtet sei, andere zu betrügen. Man sagte auch, daß sie im Bündnis mit den Dämonen wären, und daß sie Kinder raubten, um sie als Sklaven in ihren düsteren Lagern zu halten. Als kleiner Junge hatte er immer schreckliche Angst gehabt, von den Zigeunern verschleppt zu werden, und diese alte Erinnerung kam nun wieder hoch, während die Alte seine Hände festhielt.

›Aber sie hat ja ein Bild von Jesus an der Wand‹, versuchte er sich zu beruhigen. Er wollte nicht, daß seine Hände zu zittern begannen und die Alte womöglich seine Ängste bemerkte. Im stillen sprach er ein Vaterunser.

»Wie interessant«, bemerkte die Alte, ohne ihre Augen von seinen Händen abzuwenden. Und schwieg wieder.

Der Jüngling wurde immer unruhiger. Seine Hände begannen unwillkürlich zu zittern, und die Alte bemerkte es. Schnell zog er sie zurück.

»Ich bin nicht hier, um mir die Hand lesen zu lassen«, sagte er und bereute schon, überhaupt gekommen zu sein. Für einen Augenblick dachte er, daß es besser sei, sofort zu zahlen und zu verschwinden, ohne etwas erfahren zu haben. Er hatte einem wiederkehrenden Traum einfach zuviel Bedeutung beigemessen.

»Du willst etwas über Träume erfahren«, antwortete die Alte.

»Und Träume sind die Sprache Gottes. Wenn er die Sprache der Welt spricht, kann ich sie deuten. Aber wenn er die Sprache deiner Seele spricht, so kannst nur du selber sie verstehen.

Dennoch werde ich die Beratung berechnen.« ›Wieder so ein Trick‹, dachte der Jüngling. Trotzdem wollte er es wagen. Schließlich ging ein Hirte auch das Wagnis ein, Wölfen oder der Trockenheit zu begegnen, und das machte seinen Beruf erst spannend.

»Ich hatte den gleichen Traum zweimal hintereinander«, sagte er. »Ich träumte, daß ich mit meiner Herde auf der Weide war, als plötzlich ein Kind erschien, das mit den Schafen zu spielen begann. Eigentlich mag ich nicht, wenn man meine Schafe stört, sie haben nämlich Angst vor Fremden. Aber Kinder können immer mit ihnen herumtoben, ohne daß sie sich erschrecken. Ich weiß nicht, warum. Wie können die Schafe wohl das Alter eines Menschen erkennen?«

»Komm endlich zur Sache«, unterbrach ihn die Alte. »Ich habe einen Topf auf dem Feuer. Außerdem hast du wenig Geld und kannst meine Zeit nicht so lange beanspruchen. «

»Das Kind spielte ein Weilchen mit den Schafen«, fuhr der Jüngling etwas verlegen fort. »Und auf einmal nahm es mich bei der Hand und führte mich zu den Pyramiden von Ägypten.«

Er machte eine kleine Pause, um die Wirkung seiner Worte abzuwarten. Aber die Alte blieb stumm.

»Dann, bei den Pyramiden von Ägypten«, die letzten drei Worte sprach er besonders betont, damit die Alte sie auch ja verstand, »sagte mir das Kind:›Wenn du hierherkommst, dann wirst du einen verborgenen Schatz vorfinden.‹Und als es mir den genauen Ort zeigen wollte, wachte ich auf. Beide Male.«

Die Alte blieb noch ein Weilchen stumm. Dann griff sie erneut nach seinen Händen und begann, sie genauestens zu studieren.

»Ich werde dir jetzt nichts abverlangen«, sagte die Alte.

»Aber ich möchte ein Zehntel deines Schatzes, wenn du ihn findest.« träumten Schatzes

willen das bißchen Geld behalten, das er noch besaß. Sie mußte tatsächlich eine Zigeunerin sein - die sind ja so dumm. »Also gut, dann deute den Traum«, bat sie der Jüngling.

»Vorher mußt du mir noch schwören, daß du mir tatsächlich den zehnten Teil deines Schatzes abgibst als Lohn für das, was ich dir sagen werde.«

Der junge Mann schwor, und die Alte bat ihn, den Schwur vor dem Christusbild zu wiederholen.

»Hier handelt es sich um einen Traum in der Sprache der Welt«, sagte sie. »Ich kann ihn deuten, und es ist eine sehr schwierige Auslegung. Darum ist es nur gerecht, wenn mir ein Teil deines Fundes zusteht. Die Deutung ist folgende: Du sollst zu den Pyramiden von Ägypten gehen. Ich habe zwar noch nie etwas von ihnen gehört, aber wenn dir ein Kind den Weg gewiesen hat, dann gibt es sie wirklich. Dort wirst du dann einen Schatz finden, der dich sehr reich macht.«

Der Jüngling war erst überrascht, dann enttäuscht. Dafür hätte er nicht kommen müssen. Doch schließlich brauchte er auch noch nichts zu bezahlen.

»Für diese Auskunft hätte ich meine Zeit nun wirklich nicht zu verschwenden brauchen«, meinte er.

»Darum sagte ich bereits, daß es sich um einen schwierigen Traum handelt. Die einfachen Dinge sind die ungewöhnlichsten, die nur die Gelehrten verstehen können. Da ich aber keine Gelehrte bin, muß ich andere Künste anwenden, wie beispielsweise das Handlesen.«

Und wie soll ich nun nach Ägypten kommen?«

»Ich kann Träume nur deuten. Ich kann sie nicht in Wirklichkeit verwandeln. Darum muß ich auch von dem leben, was mir meine Kunden abgeben.«

»Und wenn ich niemals nach Ägypten komme?«

»Dann bleibe ich ohne Bezahlung. Das wäre nicht das erste Mal.

Daraufhin sagte die Alte nichts mehr. Sie schickte den Jüngling fort, denn sie hatte schon genug Zeit mit ihm verloren.

8

Der Jüngling zog enttäuscht von dannen und nahm sich vor, nie wieder an Träume zu glauben. Ihm fiel wieder ein, daß er noch einiges zu erledigen hatte: Er besorgte sich Lebensmittel, tauschte sein Buch gegen ein

dickeres ein, und dann setzte er sich auf eine Bank auf dem Marktplatz, um den Wein zu kosten, den er gekauft hatte.

Es war ein sehr heißer Tag, und der Wein vermochte ihn aus irgendeinem unerklärlichen Grund zu erquicken. Die Schafe waren am Ortseingang, im Stall eines seiner neuen Freunde, gut aufgehoben. Er kannte überhaupt eine Menge Leute in dieser Gegend, und darum reiste er auch so gerne. Man konnte immer wieder neue Freundschaften schließen und mußte nicht Tag für Tag mit denselben Leuten auskommen. Wenn man, wie im Seminar, immer dieselben Menschen um sich hat, dann lassen wir sie zu einem festen Teil unseres Lebens werden. Und wenn sie dann ein fester Teil davon geworden sind, wollen sie unser Leben verändern. Und wenn wir dann nicht so werden, wie sie es erwarten, sind sie enttäuscht. Denn alle Menschen haben immer genaue Vorstellungen davon, wie wir unser Leben am besten zu leben haben. Doch nie wissen sie selber, wie sie ihr eigenes Leben am besten anpacken sollen. Wie jene Traumdeuterin, die nicht fähig war, die Träume Wirklichkeit werden zu lassen.

Er wollte noch warten, bis die Sonne tiefer stand, bis er mit seiner Herde weiterzog. In nur mehr drei Tagen würde er mit der Tochter des Händlers beisammen sein.

Nun begann er das Buch zu lesen, welches er vom Pfarrer von Tarifa bekommen hatte. Es war sehr dick und handelte gleich auf der ersten Seite von einer Beerdigung, und die Namen der Figuren waren sehr kompliziert. Wenn er eines Tages selber ein Buch schreiben würde, dachte er bei sich, so würde er immer nur jeweils eine Person nach der anderen in Erscheinung treten lassen, um den Leser nicht zu verwirren.

Als er sich endlich in die Lektüre vertiefen konnte - und sie war recht gut, denn sie handelte von einer Beerdigung im Schnee, was ihm ein Gefühl der Erfrischung unter dieser starken Mittagssonne vermittelte -, setzte sich ein alter Mann zu ihm auf die Bank und begann eine Unterhaltung.

»Was machen all die Leute?« fragte der Alte, während er auf die Menschen deutete, die über den Platz eilten.

»Arbeiten«, antwortete der Jüngling kurz und tat so, als sei er in die Lektüre vertieft. In Wirklichkeit aber dachte er jetzt daran, daß er die Schafe diesmal vor den Augen der Tochter des Händlers scheren würde, damit sie sah, was er für interessante Dinge beherrschte. Diese Szene hatte er sich schon öfter vorgestellt; und immer war das Mädchen verblüfft, wenn er ihr erklärte, daß Schafe von hinten nach vorne geschoren werden müssen. Auch versuchte er sich an ein paar gute Anekdoten zu erinnern, die er ihr während der Arbeit erzählen könnte. Die meisten kannte er aus irgendwelchen Büchern, aber er wollte sie so erzählen, als hätte er sie persönlich erlebt. Sie würde es sowieso nie merken, weil sie selber nicht lesen konnte.