»Wo dein Schatz liegt, dort ist auch dein Herz«, hatte der Alchimist gesagt.
Aber sein Herz sprach von anderen Dingen. Es erzählte mit Stolz von einem Hirten, der seine Schafe verlassen hatte, um einem wiederkehrenden Traum zu folgen. Es erzählte von dem persönlichen Lebensplan und von all den Männern, die sich ebenfalls aufgemacht hatten, auf der Suche nach fernen Ländern und schönen Frauen, und die es mit den Männern ihrer Zeit aufgenommen hatten, mit deren Anschauungen und Vorurteilen.
Und während des ganzen Weges erzählte sein Herz von Reisen, Entdeckungen, Büchern und großen Veränderungen.
Erst in dem Augenblick, als er eine Düne erklimmen wollte, und nicht einen Augenblick früher, flüsterte ihm sein Herz zu:
»Achte auf den Ort, an dem du weinen wirst. Denn an jenem Ort werde auch ich sein, und dort liegt dein Schatz begraben.«
Der Jüngling stieg langsam die Düne hinauf. Der Sternenhimmel zeigte wieder einen Vollmond; sie waren also einen Monat lang durch die Wüste gezogen. Das Mondlicht ließ die Düne in einem Schattenspiel wie ein wogendes Meer aussehen, und der Jüngling dachte an jenes Mal zurück, als er die Zügel seines Pferdes lockergelassen und dem Alchimisten das Zeichen gegeben hatte, worauf dieser wartete. Das Mondlicht schien über der schweigenden Wüste und jener langen Reise, welche die Männer auf der Suche nach ihrem Schatz zurücklegen. Als er einige Augenblicke später oben auf der Düne ankam, machte sein Herz einen Freudensprung. Im strahlenden Licht des Vollmonds und über der hellen Wüste lagen majestätisch und feierlich die Pyramiden von Ägypten vor ihm.
Der Jüngling fiel auf die Knie und weinte vor Überwältigung.
Er dankte Gott, daß er an seinen persönlichen Lebensweg geglaubt hatte, und daß er dem König, dem Händler, dem Engländer und dem Alchimisten begegnet war. Vor allem aber dankte er, eine Frau der Wüste gefunden zu haben, die ihn verstehen ließ, daß die Liebe niemals einen Mann von seiner Bestimmung abhält.
Die jahrhundertealten Pyramiden blickten in ihrer ganzen Größe auf den Jüngling herab. Wenn er wollte, dann könnte er jetzt in die Oase zurückkehren, Fatima zur Frau nehmen und als einfacher Schafhirte leben. Denn auch der Alchimist lebte in der Wüste, obwohl er die Sprache der Welt beherrschte und obwohl er Blei in Gold verwandeln konnte. Er brauchte seine Weisheit und seine Kunst niemandem zu beweisen. Auf dem Weg zu seinem persönlichen Lebensplan hatte er bereits alles gelernt, was er benötigte, und er hatte alles gelebt, was er sich zu leben wünschte.
Nun war er bei seinem Schatz angelangt. Aber ein Werk ist erst vollendet, wenn das Ziel erfüllt ist. Hier oben auf der Düne hatte er geweint. Er schaute zu Boden und bemerkt daß ein Skarabäus dort herumkrabbelte, wo seine Tränen niedergefallen waren. Und er hatte in seiner Zeit in der Wüste gelernt, daß der Skarabäus in Ägypten das Symbol für Gott ist. Wieder ein Zeichen! Der Jüngling begann zu graben, nachdem er an den Kristallwarenhändler gedacht hatte; niemand würde eine Pyramide in seinem Garten haben können, selbst wenn er sein ganzes Leben lang Steine aufeinanderhäufte.
Die ganze Nacht über grub der Jüngling an jener Stelle ohne etwas zu finden. Die jahrhundertealten Pyramiden blickten schweigend auf ihn hinab. Aber er gab nicht auf: Er grub und grub und kämpfte gegen den Wind an, der den Sand immer wieder in das Loch zurückwarf. Seine Hände wurden müde, dann wund, doch der Jüngling vertraute auf die Stimme seines Herzens. Und die hatte gesagt, daß er dort graben solle, wo seine Tränen niederfallen würden.
Plötzlich, als er gerade ein paar Steine beseitigen wollte, hörte er Schritte. Einige Gestalten näherten sich. Ihre Silhouetten zeichneten sich gegen den Mond ab, so daß der Jüngling weder die Augen noch die Gesichter erkennen konnte.
»Was treibst du da?« fragte eine Gestalt.
Der Jüngling antwortete nicht. Aber er verspürte Angst, er fürchtete um seinen Schatz.
»Wir sind auf der Flucht wegen des Stammeskrieges«, sagte ein anderer. »Wir müssen wissen, was du da versteckst. Denn wir brauchen Geld.«
»Ich halte nichts versteckt«, entgegnete der Jüngling. Aber eine der Gestalten packte ihn und zog ihn aus dem Loch. Ein anderer durchsuchte seine Taschen und fand das Stück Gold.
»Er hat Gold bei sich«, rief er.
Der Mond beleuchtete das Gesicht dieses Mannes, und in dessen Augen sah er den Tod.
»Sicherlich hat er im Sand noch mehr Gold versteckt«, meinte ein anderer.
Und sie zwangen den Jüngling weiterzugraben, aber es kam nichts zum Vorschein. Dann verprügelten sie ihn, bis am Himmel die ersten Sonnenstrahlen aufleuchteten. Seine Kleidung war zerfetzt, und er fühlte sich dem Tod nahe.
›Wozu nützt mir das Geld, wenn ich sowieso sterbe?‹dachte er und erinnerte sich, was der Alchimist gesagt hatte: »Nur selten nützt das Geld, jemanden vom Tod zu befreien.«
»Ich suche einen Schatz«, gestand der Jüngling endlich. Und mit zerschundenen und geschwollenen Lippen erzählte er den Räubern, daß er zweimal von einem Schatz geträumt hatte, der hier bei den Pyramiden vergraben war. Derjenige, welcher der Anführer zu sein schien, schwieg eine Weile. Dann sagte er zu seinem Gefolgsmann: »Laß ihn los. Er hat nichts mehr. Und das Gold war sicher gestohlen.«
Der Jüngling fiel mit dem Gesicht in den Sand.
»Laß uns gehen«, fügte der Anführer hinzu. Und zum Jüngling gewandt, sagte er: »Du wirst nicht sterben, du wirst leben, um zu lernen, daß man nicht so dumm sein darf. Hier, an der Stelle, wo du bist, habe ich vor beim zwei Jahren ebenfalls einen wiederkehrenden Traum gehabt. Ich träumte, daß ich nach Spanien gehen und auf dem Land eine zerfallene Kirche suchen solle, wo die Hirten mit ihren Schafen zu schlafen pflegen, und daß in der Sakristei ein Maulbeerbaum wächst, an dessen Wurzeln ein vergrabener Schatz liegt. Aber ich bin doch nicht blöd, nur wegen eines wiederkehrenden Traumes eine Wüste zu durchqueren.«
Dann zogen sie ab.
Der Jüngling erhob sich mit Mühe und schaute wieder zu den Pyramiden hinüber. Die Pyramiden lächelten ihm zu, und er lächelte zurück, und sein Herz war von Freude erfüllt. Nun hatte er seinen Schatz gefunden.
Epilog
Der Jüngling hieß Santiago. Er kam zu der kleinen verlassenen Kirche, gerade als es zu dämmern begann. Der Maulbeerbaum stand noch da, wo einst die Sakristei gewesen war, und man konnte noch immer die Sterne durch das halb zerstörte Dach sehen. Er erinnerte sich, daß er vor geraumer Zeit mit seinen Schafen hiergewesen war und daß es eine friedvolle Nacht gewesen war - mit Ausnahme des Traumes. Jetzt war er ohne Herde. Dafür hatte er einen Spaten dabei.
Er schaute eine Weile in den Himmel. Dann entnahm er dem Rucksack eine Flasche Wein und trank genüßlich. Er dachte an die Nacht in der Wüste, als er in die Sterne geschaut und mit dem Alchimisten Wein getrunken hatte. Er dachte an die vielen Umwege, die er gegangen war, und an die seltsame Art, wie Gott ihm seinen Schatz gezeigt hatte. Hätte er nicht an wiederkehrende Träume geglaubt, so wären ihm keine Zigeunerin, kein König, kein Dieb und keine anderen Weggefährten begegnet.
›Die Liste ist recht lang geworden. Doch die Zeichen wiesen mir den Weg, ich konnte ihn nicht verfehlen‹, sagte er sich.
Ohne es zu bemerken, schlief er ein. Als er erwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Dann fing er an, bei den Wurzeln des Maulbeerbaumes zu graben.
›Du alter Hexenmeisters dachte der Jüngling.›Du hast alles gewußt. Du hast sogar etwas Gold für mich aufheben lassen, damit ich zu dieser Kirche zurückkehren konnte. Der Mönch hat gelacht, als ich völlig zerlumpt wieder bei ihm aufkreuzte.
Hättest du mir das nicht ersparen können?‹
»Nein«, hörte er den Wind sagen. »Wenn ich dich gewarnt hätte, dann hättest du die Pyramiden nicht zu sehen bekommen.