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Der Alte jedoch gab nicht auf. Er sagte, er sei müde und durstig, und bat um einen Schluck Wein. Der Jüngling reichte ihm die Flasche, in der Hoffnung, dann vielleicht seine Ruhe zu haben. Aber der Alte wollte sich unbedingt unterhalten. Er fragte, was er da gerade lese. Gerne wäre der Hirte jetzt unhöflich geworden und hätte die Bank gewechselt, aber sein Vater hatte ihm Respekt vor dem Alter beigebracht. So reichte er dem Alten das Buch aus zweierlei Gründen: erstens konnte er den Titel nicht richtig aussprechen, und zweitens würde der Alte, wenn er nicht lesen konnte, wahrscheinlich von sich aus die Bank wechseln, um sich nicht gedemütigt zu fühlen.

»Hmm...«, machte der Alte und betrachtete das Exemplar von allen Seiten, als handle es sich um einen seltenen Gegenstand.

»Dies ist zwar ein wichtiges Werk, jedoch äußerst langweilig.«

Der Jüngling war überrascht. Also konnte der Alte auch lesen und kannte sogar dieses Buch. Wenn es tatsächlich so langweilig ist, wie er behauptet, dann wäre noch Zeit, es gegen ein anderes einzutauschen.

»Es ist ein Buch, das vom selben handelt wie alle an deren Bücher auch«, fuhr der Alte fort. »Der Unfähigkeit des Menschen, sein eigenes Schicksal zu wählen. Und schließlich bewirkt es, daß alle an die größte Lüge der r Welt glauben.«

9

»Welches ist denn die größte Lüge der Welt?« fragte der Jüngling überrascht.

»Es ist diese: In einem bestimmten Moment unserer Existenz verlieren wir die Macht über unser Leben, und es wird dann vom Schicksal gelenkt. Das ist die größte Lüge der Welt!

»Bei mir war es nicht so«, entgegnete der junge Mann. »Man wollte einen Geistlichen aus mir machen, aber ich habe mich entschlossen, Schafhirte zu werden.«

»So ist es besser«, meinte der Alte. »Schließlich reist du gerne.«

›Er hat meine Gedanken gelesen, überlegte der Jüngling. Der Alte blätterte inzwischen im Buch, ohne Anstalten zu machen, es zurückzugeben. Der Hirte betrachtete die ausgefallene Kleidung, die jener trug; er sah wie ein Araber aus, was in dieser Gegend keine Seltenheit war. Afrika lag nur wenige Stunden von Tarifa entfernt; man brauchte lediglich die schmale Meerenge mit einem Boot zu überqueren. Häufig erschienen Araber in der

Stadt, um einzukaufen und mehrmals täglich eigenartige Gebete zu murmeln.

»Woher kommen Sie?« fragte er.

»Von vielerorts.«

»Niemand kann von verschiedenen Orten gleichzeitig kommen«, sagte der Jüngling. »Ich bin ein Hirte und kenne viele Orte, aber herkommen tue ich aus einer einzigen Stadt, in der Nähe einer alten Burg. Dort bin ich geboren.«

»Dann kann man sagen, daß ich aus Salem komme.«

Der Jüngling hatte keine Ahnung, wo Salem lag, fragte jedoch nicht weiter, um sich keine Blöße zu geben. Er schaute eine Zeitlang dem Treiben der Leute auf dem Platz zu, die alle einen sehr geschäftigen Eindruck machten.

»Wie läuft es in Salem?« fragte der Jüngling, um auf eine Spur zu kommen.

»Wie immer.«

Das war noch keine Fährte. Er wußte nur so viel, daß Salem nicht in Andalusien lag. Sonst würde er es kennen.

»Und was machen Sie in Salem?« beharrte er weiter.

»Was ich dort mache?« Jetzt brach der Alte in ein herzliches Gelächter aus. »Ich bin der König von Salem!«

›Die Menschen reden oft merkwürdige Dinge‹, dachte der Hirte.›Manchmal ist die Gesellschaft der Schafe wirklich vorzuziehen, sie sind stumm und suchen nur nach Wasser und Futter. Oder Bücher leisten uns Gesellschaft, die uns die tollen Geschichten immer dann erzählen, wenn wir sie hören möchten.

Aber wenn man mit Menschen spricht, so kann es passieren, daß sie Dinge von sich geben, bei denen man nicht mehr weiterweiß.‹

»Mein Name ist Melchisedek«, sagte der Alte. »Wie viele Schafe hast du?«

»Genug«, antwortete der Jüngling mißtrauisch. Der Alte wollte zuviel über ihn erfahren.

»In dem Fall stehen wir vor einem Problem. Ich kann dir nicht helfen, solange du annimmst, daß du genug Schafe besitzt.

Nun wurde der junge Mann gereizt. Schließlich hatte nicht er um Hilfe, sondern der Alte um Wein, Unterhaltung und das Buch gebeten.

»Geben Sie mir das Buch zurück. Ich muß jetzt meine Schafe holen und weiterziehen.«

»Wenn du mir den zehnten Teil deiner Schafherde gibst, dann erkläre ich dir, wie du an deinen verborgenen Schatz gelangen kannst«, sagte der Alte.

Jetzt fiel dem Jüngling der Traum wieder ein, und plötzlich erschien ihm alles ganz klar. Die alte Traumdeuterin hatte zwar nichts genommen, aber dafür würde ihn jetzt der Alte, der vielleicht ihr Mann war, für eine wertlose Auskunft ausnehmen.

Sicherlich war er auch ein Zigeuner.

Bevor der Jüngling etwas erwidert hatte, beugte sich der Alte herunter, nahm ein Stöckchen zur Hand und begann im Sand zu schreiben. Beim Herabbeugen leuchtete etwas auf seiner Brust auf, das den jungen Mann stark blendete. Aber mit einer für sein Alter fast zu eiligen Bewegung zog der Greis seinen Mantel darüber. Als sich die Augen des jungen Mannes wieder beruhigt hatten, las er, was der Alte schrieb.

Im Sand des Marktplatzes standen die Namen seines Vaters und seiner Mutter. Er las die Geschichte seines bisherigen Lebens, seiner kindlichen Spiele, der kalten Nächte während des Seminars; er las den Namen der Kaufmannstochter, den er selber gar nicht kannte. Er las Dinge von sich, über die er noch mit niemandem gesprochen hatte wie er die Waffe seines Vaters entwendete, um Hirsche zu jagen, oder die Geschichte seiner ersten, einsamen sexuellen Erfahrung.

10

»Ich bin der König von Salem«, hatte der Alte behauptet.

»Wieso unterhält sich ein König mit einem einfachen Hirten?« fragte der Jüngling beschämt und verwundert.

»Dafür gibt es mehrere Gründe. Aber der Hauptgrund liegt darin, daß du es geschafft hast, deinem persönlichen Lebensweg zu folgen.«

Der Jüngling wußte nicht, was ein persönlicher Lebensweg war.

»Es ist das, was du schon immer gerne machen wolltest. Alle Menschen wissen zu Beginn ihrer Jugendzeit, welches ihre innere Bestimmung ist. In diesem Lebensabschnitt ist alles so einfach, und sie haben keine Angst, alles zu erträumen und sich zu wünschen, was sie in ihrem Leben gerne machen würden.

Indessen, während die Zeit vergeht, versucht uns eine mysteriöse Krall davon zu überzeugen, daß es unmöglich sei, den persönlichen Lebensweg zu verwirklichen.«

Was der Alte da sagte, ergab nicht viel Sinn für den jungen Mann. Dennoch wollte er wissen, was der Begriff mysteriöse Kräfte bedeuten sollte; die Tochter des Händlers würde Augen machen.

»Das sind die Kräfte, die uns schlecht erscheinen, aber in Wirklichkeit helfen sie uns, unseren persönlichen Lebensplan zu erfüllen. Sie entwickeln deinen Geist und deinen Willen, denn es gibt eine große

Wahrheit auf diesem Planeten: Wer immer du bist oder was immer du tust, wenn du aus tiefster Seele etwas willst, dann wurde dieser Wunsch aus der Wellenseele geboren. Das ist dann deine Aufgabe auf Erden.«

»Selbst wenn es nur der Wunsch zu reisen ist oder der, die Tochter des Textilhändlers zu heiraten?«