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»Oder der, nach einem Schatz zu suchen. Die Wellenseele wird von dem Glück der Menschen gespeist. Oder vom Unglück, von Neid und Eifersucht. Unsere einzige Verpflichtung besteht darin, den persönlichen Lebensplan zu erfüllen. Alles ist in Einem. Und wenn du etwas ganz fest willst, dann wird das gesamte Universum dazu beitragen, daß du es auch erreichst.«

Einige Zeit blieben sie schweigsam und beobachteten die Leute auf dem Marktplatz. Der Alte ergriff zuerst wieder das Wort.

»Warum hütest du Schafe?«

»Weil ich gerne reise.«

Der Alte deutete auf einen Eisverkäufer mit einem roten, zweirädrigen Karren, der an einer Ecke des Platzes stand.

»Dieser Eisverkäufer wollte als kleiner Junge auch immer reisen. Aber er zog es vor, einen kleinen Eiswagen zu kaufen, um einige Jahre Geld zu verdienen und zu sparen. Wenn er genug hat, wird er einen Monat in Afrika verbringen. Er hat nie verstanden, daß man immer in der Lage ist, das, was man sich erträumt, auch in die Tat umzusetzen.«

»Er hätte auch Hirte werden können«, überlegte der Jüngling laut.

»Er hat sogar daran gedacht«, sagte der Alte. »Aber die Eisverkäufer sind geachteter als die Hirten. Sie haben ein Haus, während die Hirten im Freien übernachten. Die Leute verheiraten ihre Töchter lieber mit einem Eisverkäufer als mit einem Hirten.«

Der Jüngling fühlte einen Stich im Herzen, als er an die Tochter des Händlers denken mußte. Sicherlich gab es in ihrer Stadt auch einen Eisverkäufer.

»Schließlich wird es für die Menschen wichtiger, was andere Leute über Eisverkäufer und über Hirten denken, als ihre innere Bestimmung zu erfüllen.«

Daraufhin blätterte der Alte in dem Buch und las ein wenig darin. Der junge Mann wartete ein Weilchen, um ihn dann zu unterbrechen, wie er selber unterbrochen worden war.

»Warum erzählen Sie mir diese Dinge?«

»Weil auch du deiner inneren Bestimmung zu folgen versuchst und nun kurz vor dem Aufgeben stehst.«

»Und erscheinen Sie immer im kritischen Moment?«

»Zwar nicht immer in dieser Form, jedoch irgendwie tauche ich immer auf. Manchmal erscheine ich in Form eines guten Ausweges, einer guten Idee. Ein andermal, in einem entscheidenden Moment, erleichtere ich die Dinge. Und so weiter, aber die Mehrheit der Menschen bemerkt es nicht.«

Der Alte berichtete, daß er vergangene Woche einem Edelsteinsucher in Form eines Steines erschienen sei. Der Mann hatte alles aufgegeben, um Smaragde zu suchen. Fünf Jahre lang arbeitete er an einem Fluß und hatte bereits 999 999 Steine aufgeschlagen, auf der Suche nach einem Smaragd. Nun dachte der Edelsteinsucher ans Aufgeben dabei fehlte doch nur noch ein Stein, ein einziger Stein, bis er seinen Smaragd finden würde. Weil auch dieser an seine Bestimmung geglaubt hatte, beschloß der Alte einzugreifen. Er verwandelte sich in einen Stein, der auf den Fuß des Mannes zurollte. Dieser aber warf, mit der ganzen Wut und Verzweiflung seiner fünf verlorenen Jahre, den Stein weit von sich. Er schleuderte ihn mit solcher Gewalt, daß er auf einen anderen Stein aufschlug, der davon zerbarst und den schönsten Smaragd der Welt in seinem Innern offenbarte.

»Die Menschen erkennen schon sehr früh ihren Lebensplan«, bemerkte der Alte mit Bitterkeit. »Vielleicht geben sie ihn gerade deswegen dann auch so früh wieder auf. Aber so ist es nun mal.« Da erinnerte sich der Jüngling, daß die Unterhaltung mit dem verborgenen Schatz begonnen hatte.

»Schätze werden vom Strom an die Oberfläche getragen und wieder unter den Wassern begraben«, sagte der Alte. »Wenn du etwas über deinen Schatz erfahren willst, dann mußt du mir den zehnten Teil deiner Schafe geben.«

»Möchten Sie nicht lieber ein Zehntel des Schatzes haben?«

Nun war der Alte enttäuscht.

»Wenn du versprichst, was du noch gar nicht hast, dann wirst du den Willen verlieren, es zu erreichen.«

Daraufhin gestand der Jüngling, daß er der Zigeunerin bereits ein Zehntel versprochen hatte.

»Ja, die Zigeuner sind schlau«, sagte der Alte. »Immerhin ist es gut, wenn du lernst, daß alles im Leben seinen Preis hat. Das ist es, was wir Lichtboten vermitteln wollen.«

Der Alte gab dem Jüngling das Buch zurück.

»Morgen zur gleichen Zeit wirst du mir ein Zehntel deiner Schafe bringen. Dann lehre ich dich, wie du an den verborgenen Schatz gelangen wirst. Auf Wiedersehen.«

Und er verschwand um eine Ecke.

11

Der Jüngling versuchte zu lesen, aber er konnte sich nicht mehr konzentrieren. Er war unruhig und angespannt, denn er wußte, daß der Alte die Wahrheit sagte. Er ging zum Eisverkäufer hinüber und kaufte sich ein Eis, während er überlegte, ob er ihm erzählen sollte, was der Alte ihm gesagt hatte.

›Manchmal ist es klüger, die Dinge zu belassen, wie sie sind, dachte er und verhielt sich ruhig. Wenn er etwas sagen würde, dann wäre der Eisverkäufer drei Tage lang am Überlegen, ob er alles hinwerfen sollte, dabei war er doch schon so an seinen Verkaufskarren gewöhnt.

Diesen Kummer konnte er dem Eisverkäufer ersparen. So ging er ziellos durch die Straßen und kam zum Hafen. Hier stand ein kleines Gebäude mit einem Schalter, an dem man Fahrkarten lösen konnte. Ägypten liegt in Afrika!

»Was wünschen Sie?« fragte der Mann am Schalter.

»Morgen vielleicht«, entgegnete der Jüngling und zog sich eilig zurück. Wenn er nur ein einziges Schaf verkaufte, - so konnte er die Meerenge überqueren. Dieser Gedanke beunruhigte ihn.

»Wieder so ein Träumer«, sagte der Kerl am Schalter zu seinem Kollegen, während sich der Jüngling entfernte. »Der hat kein Geld zum Reisen.«

Als er am Schalter gestanden war, mußte der Jüngling an

;seine Schafe denken und bekam auf einmal Angst, zu ihnen zurückzukehren. Binnen zwei Jahren hatte er alles über ,die Kunst des Schafehütens erlernt; er konnte scheren, die trächtigen Tiere versorgen, die Schafe vor den Wölfen beschützen. Auch kannte er inzwischen alle Weideplätze Andalusiens. Er kannte den richtigen An- und Verkaufspreis eines jeden Tieres.

Nun schlug er den längsten Weg ein, um zum Stall seines Freundes zurückzukehren. Auch diese Stadt hatte eine '~ Burg, und so entschied er, die Steinrampe hinaufzugehen und sich auf die Brüstung zu setzen. Von dort oben konnte er Afrika sehen.

Irgendwann hatte man ihm erklärt, daß über diesen Weg die Mauren eingedrungen waren, die während so vieler Jahre fast ganz Spanien besetzt hielten. Der Jüngling verabscheute die Mauren, schließlich hatten sie die Zigeuner mitgebracht. Von da oben konnte er auch beinahe die ganze Stadt überblicken, einschließlich des Platzes, wo er sich mit dem Alten unterhalten hatte.

›Verflucht sei die Stunde, in der mir der Alte begegnet ist‹, dachte er verzweifelt. Er hatte ja nur die Traumdeuterin aufsuchen wollen. Weder sie noch der Alte hatten berücksichtigt, daß er ein Schäfer war. Beide waren sie wohl recht einsame Personen, die nicht mehr ans Leben glaubten und nicht verstanden, daß ein Hirte an seinen Schafen hängt. Er kannte die Eigenarten jedes einzelnen Tieres, er wußte, welches hinkte, welches in zwei Monaten niederkommen würde und welches das Faulste war. Er wußte auch, wie man sie scherte und wie man sie schlachtete. Wenn er sie verließ, so würden sie leiden.

Ein leichter Wind kam auf. Er kannte diesen Wind, die Leute nannten ihn den Wind der Levante, weil mit diesem Wind Horden von Aufständischen aus dem Orient gekommen waren.

Bevor er nicht in Tarifa gewesen war, hätte er nie gedacht, daß Afrika so nah war. Das bedeutete auch eine große Gefahr: Die Mauren könnten jederzeit wieder angreifen.

Der Wind begann stärker zu blasen.

›Ich stehe zwischen den Schafen und dem Schatz‹, dachte der Jüngling. Nun mußte er sich zwischen etwas Vertrautem und etwas, was er gerne besitzen würde, entscheiden. Da gab es auch noch das Mädchen, aber sie war nicht so wichtig wie die Schafe, weil sie nicht auf ihn angewiesen war. Vielleicht würde sie sich seiner nicht mal mehr erinnern. Jedenfalls war er sicher, daß, wenn er in zwei Tagen nicht erschien, sie es nicht einmal bemerken würde: Für sie war ein Tag wie der andere, und wenn alle Tage gleich sind, dann bemerkt man auch nicht mehr die guten Dinge, die einem im Leben widerfahren.