›Ich bin von meinem Vater, meiner Mutter und der Burg in meiner Heimatstadt fortgegangen. Sie haben sich daran gewöhnt, genauso wie ich mich daran gewöhnt habe. Also werden sich die Schafe auch an meine Abwesenheit gewöhnen, überlegte er. Von hier oben konnte er den Platz gut überblicken.
Der Eisverkäufer verkaufte noch immer sein Eis. Ein junges Pärchen nahm auf der Bank Platz, wo er sich mit dem Alten unterhalten hatte, und tauschte einen langen Kuß.
»Ja, der Eisverkäufer«, sagte er vor sich hin, ohne jedoch den Satz zu beenden, da der Levante Wind nun stärker blies und er ihn auf dem Gesicht spürte. Er brachte zwar die Mauren, aber er brachte auch den Duft der Wüste und der verschleierten Frauen.
Er brachte den Schweiß und die Träume von Männern, die eines Tages ins Unbekannte aufgebrochen waren, auf der Suche nach Gold, nach Abenteuern - und den Pyramiden. Der Jüngling begann, den Wind um seine Freiheit zu beneiden, und merkte, daß er genauso frei sein könnte. Nichts hinderte ihn daran, außer er selber. Die Schafe, die Tochter des Händlers, die Weiden von Andalusien waren alle nur einzelne Schritte auf seinem persönlichen Lebensweg gewesen.
12
Am nächsten Tag traf sich der Jüngling mittags mit dem Alten. Er hatte sechs Schafe mitgebracht.
»Ich bin überrascht«, sagte der Jüngling, »mein Freund hat mir sofort alle übrigen Schafe abgekauft. Er meinte, daß er schon immer davon geträumt habe, Hirte zu sein, und dies sei ein gutes Zeichen.«
»Das ist immer so«, bemerkte der Alte. »Wir nennen es das Günstige Prinzip. Wenn du zum ersten Mal ein Glücksspiel riskierst, wirst du mit großer Wahrscheinlichkeit gewinnen.
Anfängerglück.«
»Aber warum?«
»Weil das Leben will, daß du deinen persönlichen Lebensweg einhältst.«
Dann untersuchte er die Schafe und stellte fest, daß eines lahmte. Der Jüngling versicherte, dies sei nicht so wesentlich, weil es das intelligenteste war und auch viel Wolle produzierte.
»Wo befindet sich also der Schatz?« fragte er.
»Der Schatz liegt in Ägypten bei den Pyramiden.«
Der junge Mann erschrak. Das gleiche hatte schon die Alte behauptet, aber nichts dafür genommen.
»Um dorthin zu gelangen, mußt du den Zeichen folgen. Gott zeichnet den Weg vor, den jeder Mensch gehen soll. Du mußt also nur erkennen, was er für dich aufgezeichnet hat.« Bevor der Jüngling etwas sagen konnte, flatterte ein Schmetterling zwischen ihm und dem Alten hin und her. Da mußte er an seinen Großvater denken: Als er noch ein Kind war, hatte ihm der Großvater erzählt, daß Schmetterlinge Glück bringen. Wie Grillen, vierblättriger Klee und Hufeisen.
»Das stimmt«, sagte der Alte, der seine Gedanken lesen konnte. »Es ist, wie dein Großvater dich lehrte. Das sind die Zeichen.« Dann öffnete er den Mantel, der seine Brust verdeckte, und der Jüngling war beeindruckt von dem, was er sah, und erinnerte sich an das Leuchten, das er am vorigen Tag bemerkt hatte: Der Alte hatte einen Brustpanzer aus purem Gold, bedeckt mit bunten Edelsteinen. Er mußte tatsächlich ein König sein. Wahrscheinlich war er nur in den Mantel gehüllt, um den Räubern zu entkommen.
»Nimm«, sagte der Alte und entnahm aus der Mitte des goldenen Brustpanzers einen weißen und einen schwarzen Stein.
»Sie heißen Urim und Thummim. Der schwarze bedeutet ja und der weiße nein. Wenn du also die Zeichen nicht selber erkennen kannst, werden sie dir nützlich sein. Stelle immer eine objektive Frage. Aber auf jeden Fall ist es besser, wenn du deine Entscheidungen selber fällst. Daß der Schatz bei den Pyramiden liegt, wußtest du bereits; aber du mußtest sechs Schafe einbüßen, weil ich dir half, eine Entscheidung zu treffen.«
Der Jüngling verstaute die Steine in seinem Rucksack. In Zukunft würde er seine eigenen Entscheidungen treffen.
»Vergiß nie, daß alles ein Ganzes ist. Vergiß die Sprache der Zeichen nicht. Und vor allem vergiß nicht, deinen persönlichen Lebensweg zu Ende zu gehen. Bevor wir uns trennen, möchte ich dir aber noch eine Geschichte erzählen: Eines Tages schickte ein Geschäftsmann seinen Sohn zu dem größten Weisen weit und breit, um ihm das Geheimnis des Glücks beizubringen. Der Jüngling wanderte vierzig Tage durch die Wüste, bis er schließlich an ein prachtvolles Schloß kam, das oben auf einem Berg lag. Dort wohnte der Weise, den er aufsuchen sollte. Anstatt nun einen Heiligen vorzufinden, kam der Jüngling in einen Raum, in welchem große Betriebsamkeit herrschte; Händler kamen und gingen, Leute standen in den Ecken und unterhielten sich, eine kleine Musikkapelle spielte leichte Melodien, und es gab eine festliche Tafel mit allen Köstlichkeiten dieser Gegend. Der Weise unterhielt sich mit jedem einzelnen, und der Jüngling mußte zwei volle Stunden warten, bis er an der Reihe war.
Der Weise hörte sich aufmerksam seine Geschichte an, sagte jedoch, er habe im Moment keine Zeit, ihm das Geheimnis des Glücks zu erklären. Er empfahl ihm, sich im Palast umzusehen und in zwei Stunden wiederzukommen.
›Aber ich möchte dich um einen Gefallen bitten, fügte der Weise hinzu und überreichte dem Jüngling einen Teelöffel, auf den er zwei Öltropfen träufelte.›Während du dich hier umsiehst, halte den Löffel, ohne dabei das Öl auszuschütten.‹
Der Jüngling stieg treppauf und treppab, ohne den Blick von dem Löffel zu lösen. Nach zwei Stunden erschien er wieder vor dem Weisen.
›Na‹, fragte dieser,›hast du die kostbaren Perserteppiche in meinem Eßzimmer gesehen? Und den prachtvollen Park, den der Gärtnermeister innerhalb von zehn Jahren anlegte? Und die schönen Pergamentrollen in meiner Bibliothek?‹
Beschämt mußte der junge Mann zugeben, daß er nichts von alledem gesehen hatte, weil seine ganze Aufmerksamkeit dem Teelöffel mit dem Öl gegolten hatte, das ihm anvertraut worden war.
›Also, dann zieh noch einmal los und schau dir all die Herrlichkeiten meiner Welt genau an‹, sagte der Weise.›Man kann einem Menschen nicht trauen, bevor man sein Haus nicht kennt.‹
Nun schon etwas ruhiger, nahm er wieder den Löffel und machte sich erneut auf den Weg, doch diesmal achtete er auf all die Prachtgegenstände, die an den Wänden und an der Decke hingen. Er sah den Park, die Berge ringsherum, die Vielfalt der Blumen, die Vollendung, mit der jeder Kunstgegenstand am richtigen Ort eingefügt war. Zurück beim Weisen schilderte er ausführlich, was er alles gesehen hatte.
›Aber wo sind die beiden Öltropfen, die ich dir anvertraute?‹bemerkte der Weise.
Als er auf den Löffel blickte, mußte der Jüngling entsetzt feststellen, daß er sie verschüttet hatte.
›Also, dies ist der einzige Rat, den ich dir geben kann‹, sagte der weiseste der Weisen.›Das Geheimnis des Glücks besteht darin, alle Herrlichkeiten dieser Welt zu schauen, ohne darüber die beiden Öltropfen auf dem Löffel zu vergessen.«‹
Hierauf blieb der Hirte still. Er hatte die Geschichte des alten Königs wohl verstanden. Ein Hirte reist gerne, aber er vergißt nie seine Schafe.
Der Alte sah ihn freundlich an und machte mit ausgebreiteten Händen ein paar eigenartige Bewegungen über seinem Kopf.
Dann nahm er die Schafe und zog von dannen.
13
Oberhalb der kleinen Stadt Tarifa lag eine alte Festung, die von den Mauren erbaut worden war, und wer auf ihren Mauern saß, der konnte einen Platz, einen Eisverkäufer und ein Stück von Afrika sehen.