Zuerst wollte er noch glauben, daß sie sich versehentlich aus den Augen verloren hatten. Er blieb ein Weilchen stehen, um auf den anderen zu warten. Nach einiger Zeit stieg jemand auf einen dieser Türme und begann zu singen; alle knieten nieder, schlugen mit der Stirn gegen den Boden und sangen ebenfalls. Anschließend bauten sie, eifrigen Ameisen gleich, ihre Stände ab und verließen den Platz.
Die Sonne war schon am Untergehen. Der Jüngling sah ihr nach, wie sie langsam hinter den weißen Häusern verschwand, die den Platz säumten. Er dachte daran, daß er bei Sonnenaufgang noch auf einem anderen Kontinent war; er war ein Hirte gewesen, besaß sechzig Schafe und war mit einem Mädchen verabredet. Heute morgen auf der Weide hatte er noch einen genauen Überblick über sein Leben gehabt. Während jetzt, bei Sonnenuntergang, er sich in einem fremden Land befand, wo er nicht einmal die Sprache verstehen konnte, die hier gesprochen wurde. Er war auch kein Schäfer mehr und besaß absolut nichts mehr im Leben, nicht einmal das nötige Kleingeld, um zurückzufahren und von vorne zu beginnen.
›Das alles zwischen Sonnenauf- und untergang‹, dachte er niedergeschlagen. Und er bekam Mitleid mit sich selber, denn manchmal ändern sich die Lebensumstände innerhalb eines Augenblickes, ehe man weiß, wie einem geschieht.
Eigentlich schämte er sich zu weinen. Niemals hatte er vor seinen Schafen geweint. Aber jetzt war der Markt menschenleer, und er war fern der Heimat. Der Jüngling weinte. Er weinte, weil Gott ungerecht war und es jemandem so heimzahlte, der fest an seinen Traum geglaubt hatte.
›Als ich noch bei meinen Schafen war, fühlte ich mich glücklich und verbreitete Freude in meiner Umgebung. Die Leute sahen mich gerne kommen und empfingen mich herzlich.
Aber jetzt bin ich traurig und unglücklich. Was soll ich bloß tun? Ich werde verbittert sein und den Menschen mißtrauen, weil mich einer betrogen hat. Ich werde all jene hassen, die ihre verborgenen Schätze gefunden haben, weil ich meinen nicht fand. Und ich werde immer das wenige, was ich habe, festhalten, weil ich zu klein bin, die Welt zu umarmen.‹ Er öffnete seinen Rucksack, um nachzusehen, was er noch hatte; vielleicht war noch etwas vom Brot übriggeblieben, das er auf dem Dampfer verspeist hatte. Aber er fand nur das dicke Buch, den Mantel und die beiden Steine, die ihm der Alte gegeben hatte.
Beim Anblick der Steine fühlte er eine große Erleichterung.
Er hatte sechs Schafe gegen zwei Edelsteine aus dem goldenen Brustpanzer eingetauscht. Er könnte sie verkaufen, um seine Rückfahrkarte zu lösen.
›Ab jetzt werde ich schlauer sein, dachte der Jüngling bei sich und nahm die Steine aus dem Rucksack, um sie in der Hosentasche zu verstecken. Dies hier war eine Hafenstadt, und in diesem Punkt hatte der Mann ja recht gehabt; ein Hafen ist immer voller Diebe.
Jetzt verstand er plötzlich auch die Verzweiflung des Barbesitzers: Er wollte ihm nur klarmachen, daß er dem Mann nicht trauen sollte.
›Ich bin wie alle Menschen: Ich sehe die Welt so, wie ich sie gerne hätte, und nicht so, wie sie tatsächlich ist.‹
Er betrachtete sich seine Steine, berührte sie vorsichtig, fühlte die Temperatur und die glatte Oberfläche. Sie waren sein ganzer Schatz. Die bloße Berührung der Steine vermittelte ihm mehr Gelassenheit. Sie erinnerten ihn an den Alten.
»Wenn du etwas ganz fest willst, dann wird das Universum darauf hinwirken, daß du es erreichen kannst«, hatte er gesagt.
Gerne würde er verstehen, wie das gehen sollte. Er befand sich auf einem leeren Marktplatz, ohne alles Geld in der Tasche und ohne Schafe. Aber die Steine waren der Beweis dafür, daß er einem König begegnet war - einem König, der seine Lebensgeschichte kannte, der von der Waffe seines Vaters wußte und von seiner ersten sexuellen Erfahrung.
»Die Steine dienen zur Vorhersage. Sie heißen Urim und Thummim.« Der Jüngling verstaute sie wieder im Rucksack und wollte es einmal ausprobieren. Der Alte hatte gesagt, man müsse klare Fragen stellen, denn die Steine nützen nur, wenn man weiß, was man will. Also fragte er, ob der Segen des Alten noch bei ihm sei. Er entnahm einen Stein. Die Antwort war ja.
»Werde ich meinen Schatz finden?« fragte er weiter. Wieder steckte er die Hand in den Rucksack, um einen Stein herauszuholen, als beide durch ein Loch zu Boden fielen. Der Jüngling hatte noch gar nicht bemerkt, daß sein Rucksack aufgerissen war. Er bückte sich, um Urim und Thummim wieder aufzuheben. Als er sie jedoch so auf dem Boden liegen sah, kam ihm ein weiterer Satz des Alten ins Bewußtsein. »Lerne die Zeichen zu erkennen und folge ihnen«, hatte der alte König gesagt.
Dies war sicherlich wieder ein Zeichen. Der Jüngling lachte erleichtert auf. Dann nahm er die Steine und verstaute sie im Rucksack. Er würde ihn nicht flicken, die Steine sollten ruhig herausfallen, wann immer sie wollten. Er hatte begriffen, daß man gewisse Dinge nicht fragen soll, um seinem Schicksal nicht auszuweichen.›Außerdem habe ich mir vorgenommen, meine eigenen Entscheidungen zu treffen‹, erinnerte er sich.
Immerhin hatten ihm die Steine gesagt, daß der Alte noch bei ihm sei, und das gab ihm mehr Vertrauen. Er blickte wieder über den leeren Marktplatz, aber nun fühlte er nicht mehr die Verzweiflung von vorher. Es war keine fremde Welt, sondern eine neue. Schließlich war es genau das, was er immer gewollt hatte: neue Welten kennenlernen. Selbst wenn er die Pyramiden niemals erreichen würde, so war er doch schon viel weiter herumgekommen als jeder andere Hirte, den er kannte. Ach, wenn sie wüßten, daß es zwei Seestunden entfernt so viele exotische Dinge gab.
Die neue Welt zeigte sich ihm jetzt als ein leerer Marktplatz, aber er hatte diesen Markt auch schon voller Aktivitäten erlebt und würde es nie mehr vergessen. Nun erinnerte er sich an das Schwert - es war wirklich ein hoher Preis, den er fürs Betrachten zahlen mußte, aber er hatte vorher auch noch nie etwas Ähnliches gesehen. Plötzlich erkannte er, daß er die Welt entweder mit den Augen eines armen, beraubten Opfers sehen konnte oder aber als Abenteurer, auf der Suche nach einem Schatz.
›Ich bin ein Abenteurer auf dem Weg zu meinem Schatz‹, dachte er noch, bevor er erschöpft einschlief.
15
Er wachte auf, als ihn jemand anstieß. Er war mitten auf dem Marktplatz eingeschlafen, der sich nun wieder belebte. Verstört schaute er sich nach seinen Schafen um, bis er merkte, daß er sich in einer anderen Welt befand. Aber anstatt traurig zu sein, fühlte er sich glücklich. Nun brauchte er nicht mehr nach Wasser und Nahrung zu suchen; nun konnte er einen Schatz suchen. Er hatte zwar kein Geld in der Tasche, aber er glaubte an das Leben. Am Vorabend hatte er sich entschieden, ein Abenteurer zu sein, wie die Helden in den Büchern, die er las.
Ohne Eile spazierte er über den Platz. Die Händler bauten ihre Stände auf; er half einem Süßwarenhändler dabei. Auf dem Gesicht des Händlers lag ein zufriedenes Lächeln: Er war fröhlich, offen fürs Leben und bereit, einen guten Arbeitstag zu beginnen. Dieses Lächeln erinnerte ihn irgendwie an den Alten, diesen geheimnisvollen König, der ihm begegnet war.
›Dieser Händler macht sicher kein Zuckerwerk, weil er eines Tages reisen will, oder weil er die Tochter eines Kaufmannes heiraten will. Er stellt seine Leckereien her, weil er es gerne tut‹, überlegte der Jüngling und bemerkte, daß er dasselbe tun konnte wie seinerzeit der Alte - erkennen, ob eine Person nahe oder weit von ihrem persönlichen Lebensweg entfernt war. Nur so vom Ansehen.›Es ist so einfach, aber ich habe es noch nie bemerkt.‹