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Als der Stand fertig aufgebaut war, reichte ihm der Händler die erste Süßigkeit, die er zubereitet hatte. Der Jüngling ließ es sich schmecken, dankte und zog seines Weges. Als er sich schon etwas entfernt hatte, fiel ihm erst auf, daß der Stand von einer arabisch und einer spanisch sprechenden Person aufgebaut worden war. Und sie hatten sich bestens verständigt.

›Es gibt eine Sprache, die jenseits der Worte steht‹, dachte er.›Das konnte ich früher schon mit den Schafen erleben und fetzt auch mit den

Menschen.‹Er lernte verschiedene neue Dinge. Dinge, die er bereits erlebt hatte, die ihm dennoch neu erschienen, weil er sie damals unbeachtet ließ. Und er hatte sie nicht beachtet, weil er an sie gewöhnt war.

»Wenn ich diese Sprache ohne Worte zu entziffern lerne, dann gelingt es mir auch, die Welt zu entziffern.«

»Alles ist in Einem«, hatte der Alte gesagt.

Er beschloß, ohne Hast und ohne Unruhe durch die schmalen Straßen von Tanger zu schlendern: Nur so würde er die Zeichen bemerken. Das verlangte eine Menge Geduld, aber genau das ist die erste Tugend, die ein Hirte lernt. Wieder fiel ihm auf, daß er in dieser fremden Welt die Lektionen anwandte, die ihn seine Schafe gelehrt hatten.

»Alles ist in Einem«, hatte der Alte gesagt.

16

Der Kristallwarenhändler sah die Sonne aufgehen und empfand die gleiche Beklemmung wie an jedem Morgen. Seit beinahe dreißig Jahren war er nun schon am selben Ort, in einem Laden am oberen Ende einer ansteigenden Straße, wo nur noch selten ein Kunde vorbeikam. Jetzt war es zu spät, um noch etwas ändern zu wollen: Alles, was er im Leben gelernt hatte, war, Kristallglas zu kaufen und zu verkaufen. Es gab eine Zeit, als viele Leute sein Geschäft besuchten, arabische Händler, englische und französische Geologen, deutsche Soldaten, alle mit Geld in der Tasche.?.

Zu jener Zeit war es ein tolles Abenteuer, Gefäße aus Kristallglas zu verkaufen, und er freute sich darauf, ein reicher Mann zu werden und im Alter von schönen Frauen umgeben zu sein.

Doch die Zeit verstrich, die Stadt Ceuta wuchs mehr als Tanger, und der Handel ging andere Wege. Die Nachbarn waren fortgezogen, und nur wenige Läden blieben am Berghang zurück. Und wer kam schon wegen einiger weniger Geschäfte eigens den Hang hinauf? Aber der Kristallwarenhändler hatte keine Wahl. Dreißig Jahre seines Lebens kaufte und verkaufte er Kristallglas, und nun war es zu spät, andere Wege zu gehen.

Während des ganzen Vormittags schaute er dem wenigen Betrieb auf der Straße zu. Das machte er schon seit Jahren, und so kannte er den Rhythmus eines jeden. Wenige Minuten vor der Mittagspause blieb ein junger Ausländer vor seinem Schaufenster stehen. Er war normal

gekleidet, aber der Kristallwarenhändler erkannte mit kundigem Blick, daß jener kein Geld hatte. Dennoch beschloß der Händler, nach innen zu gehen und noch einen Moment abzuwarten, bis der Jüngling weitergezogen wäre.

17

Ein Schild an der Tür besagte, daß man hier diverse Sprachen spreche. Der Jüngling sah einen Mann hinter dem Ladentisch auftauchen. Ich kann diese Gefäße putzen, wenn Ihr möchtet«, sagte der Jüngling. »So, wie sie jetzt sind, wird sie niemand kaufen wollen.«

Der Händler sah ihn an, ohne etwas zu sagen.

»Als Gegenleistung zahlt Ihr mir einen Teller zu essen.« Der Mann blieb stumm, und der Jüngling fühlte, daß er eine Entscheidung fällen mußte. In seinem Rucksack war der Mantel, und in der Wüste würde er ihn sicher nicht mehr brauchen. Also holte er ihn heraus und begann, damit die Gläser und Vasen zu säubern. Innerhalb einer halben Stunde hatte er alle Gefäße aus dem Schaufenster gereinigt; während dieser Zeit waren zwei Kunden gekommen und hatten dem Händler einige Kristallgläser abgekauft.

Als er alles gesäubert hatte, bat er erneut um Nahrung.

»Laß uns zusammen essen gehen«, sagte der Kristallwarenhändler.

Er hängte ein Schild vor die Tür, und sie gingen zu einer winzigen Bar, oben am Berghang. Als sie am einzigen Tisch Platz genommen hatten, begann der Händler zu lächeln.

»Du hättest gar nichts putzen müssen«, meinte er. »Das Gebot des Korans verpflichtet uns, Hungrige zu speisen.«

Und warum hast du's mich dann tun lassen?« fragte der Jüngling.

»Weil die Gefäße schmutzig waren. Und wir beide, sowohl du als auch ich, mußten unsere Köpfe von schlechten Gedanken reinigen.«

Als sie mit Essen fertig waren, wandte sich der Händler an den Jüngling: »Ich möchte, daß du für mich arbeitest. Heute kamen zwei Käufer, während du die Gläser geputzt hast, und das ist ein gutes Zeichen.«

›Die Menschen sprechen so viel von Zeichen, dachte der Hirte.›Aber es ist ihnen gar nicht bewußt, was sie sagen. So wie es mir auch nicht bewußt war, daß ich mich mit den Schafen seit langem schon in einer Sprache jenseits der Worte verständigt habe.‹

»Willst du für mich arbeiten?« beharrte der Händler.

»Ja, ich kann den Rest des Tages arbeiten«, antwortete der Jüngling. »Bis zum Morgengrauen werde ich sämtliche Kristallgefäße des Geschäft es gereinigt haben. Dafür möchte ich dann das nötige Geld, um noch morgen nach Ägypten zu kommen.«

Nun mußte der Kristallwarenhändler lachen.

»Selbst wenn du meine Gläser ein Jahr lang polieren würdest, selbst wenn du eine gute Verkaufsprovision bekämst, dann müßtest du immer noch zusätzlich Geld leihen, um nach Ägypten zu gelangen. Zwischen Tanger und den Pyramiden liegen Tausende von Wüstenkilometern.«

Da kehrte einen Augenblick lang eine Stille ein, als sei die Stadt in tiefen Schlaf versunken. Es gab keine Bazare mehr, keine diskutierenden Händler, keine Männer, die auf ihren Minaretten sangen, keine prachtvollen Schwerter mit verzierten Griffen. Es gab keine Hoffnung mehr und kein Abenteuer, keine alten Könige und persönlichen Lebenspläne, keinen Schatz und keine Pyramiden. Es war, als schweige die ganze Welt, weil die Seele des Jünglings verstummt war. Es gab keinen Schmerz, kein Leiden, keine Enttäuschung: nur einen leeren Blick hinaus durch die offene Bartüre und eine große Sehnsucht zu sterben, den Wunsch, daß alles in dieser Minute ein Ende hätte.

Der Händler schaute besorgt auf den Jüngling. Es war, als ob die ganze Lebensfreude, die er ihm an diesem Morgen angesehen hatte, plötzlich verschwunden war.

»Ich kann dir Geld geben, damit du in deine Heimat zurückkehren kannst, mein Sohn«, sagte der Händler beschwichtigend.

Der Jüngling blieb stumm. Dann stand er plötzlich auf, richtete seine Kleider und nahm seinen Rucksack. »Ich werde für Sie arbeiten«, sagte er. Und nach einer weiteren Pause fügte er hinzu: »Ich brauche Geld, um einige Schafe zu kaufen.«

Zweiter Teil

1

Seit beinahe einem Monat arbeitete der Jüngling nun schon für den Kristallwarenhändler, aber die Tätigkeit machte ihn nicht recht glücklich. Der Händler stand den ganzen Tag mürrisch hinter dem Ladentisch und ermahnte ihn ständig, vorsichtig zu sein, um nichts zu zerbrechen.

Dennoch blieb er in seinem Dienst, da der Alte zwar mürrisch, aber nicht ungerecht war; der Jüngling erhielt eine gute Provision für jedes verkaufte Stück, so daß er schon einiges Geld beisammen hatte. An diesem Morgen stellte er einige Berechnungen an: Wenn er weiterhin so arbeiten würde wie bisher, dann brauchte er ein ganzes Jahr, um sich eine paar Schafe anschaffen zu können.

»Ich würde gerne ein Regal für die Kristallwaren anfertigen«, sagte er zum Händler. »Man könnte es dann vor dem Laden aufstellen, damit die Leute von unten heraufgelockt werden.«