Abermals zog er den Brief der mütterlichen Mätresse hervor.
Den 5. Mai 1607 A.D. im Hradschin zu Prag
Mon cher maître, es ist tief in der Nacht, und doch muss ich diese Zeilen noch eilends aufs Papier werfen. Ein anonymer Denunziant hat Ihrer Majestät ein Hetzschreiben zugespielt: Er will beobachtet haben, wie unser junger Freund gestern in aller Frühe blutbespritzt aus seinen Gemächern gestürzt sei, aus denen gewisse Helfershelfer kurz darauf eine verschandelte Mädchenleiche davongetragen hätten. Tatsächlich wurde heut Mittag am bezeichneten Ort ein Korpus gefunden, im Gestrüpp weitab am Moldauufer. Dass unser junger Freund vor Morgengrauen die Stadt verlassen hat, verleiht der Tirade des Anonymus einen Anschein von Wahrheit, jedenfalls in den Augen Rudolfs, der sich seither Stunde um Stunde in heiligen Zornreden erging.
Am Kaiser nagen Zweifel, mon cher maître, ob er weise gehandelt habe, als er Euch damals unseren jungen Schützling anvertraute. Mehrmals fragten Ihre Majestät sich lauthals, ob sie nicht besser täten, ihn für alle Zeiten auf ein mährisches Landgut zu verbannen. Dort könne unser Freund allenfalls ein paar altersschwache Ochsen abschlachten, aber keine Menschenkinder, rief der Kaiser noch aus, ehe er erschöpft auf sein Ruhelager fiel.
Mein lieber d’Alembert, sicher könnt Ihr Euch denken, wie sehr mich diese Worte erschüttert haben. Ah, wie Recht Ihr hattet, mein Vertrauter, auf baldige Abreise nach Krumau zu drängen! Wie strahlend muss ihm nun die alte Rosenberger Herrschaft erscheinen. Ach, wäre er nur früher Eurem Ratschlag gefolgt!
Seid gewiss, dass ich alles tun werde, um den kaiserlichen Zorn wieder einzuschläfern, doch bis dahin darf Euer Schützling keinesfalls nach Prag zurückkehren. Vollkommene Ruhe in Krumau, ich beschwöre Euch, mon cher maître, oder der kaiserliche Zorn wird uns alle verderben!
Mit bestürzten, vertrauensvollen etc. etc. Katharina da Strada
Ein Pochen an der Tür, ein höfliches Hüsteln - auch ohne sich umzuwenden, wusste d’Alembert, dass Pavel eingetreten war, sein ältlicher Sekretär.
»Was gibt es, mon ami?« Langsam steckte er den Brief wieder in seine Westentasche und drehte sich mit dem Rücken zum Fenster.
»Verzeiht, Maître, Don Julius lässt Euch rufen.«
»Ausgezeichnet, ich wollte ohnehin zu ihm.« Aber wieso ist er um diese Zeit schon auf?, fragte sich d’Alembert. Er konnte sich überhaupt nicht erinnern, wann sich Julius jemals zu so früher Stunde erhoben hatte, ausgenommen nur das halbe Jahr im Kloster zu Gaming, wo er von schmallippigen Kartäusermönchen in Theologie unterrichtet worden war.
Es kann nichts Gutes bedeuten, dachte der Maître, indem er Pavel zunickte und hinaus auf den Gang trat. Wahrscheinlich steht Julius in Hut und Mantel auf dem Hof und verlangt seine sofortige Rückkehr nach Prag. Aber daraus wird nichts, Exzellenz. Vollkommene Ruhe in Krumau!
D’Alembert ließ sein Stöckchen durch die Luft wirbeln und eilte durch dämmrige Gänge hinüber zum gräflichen Appartement, wo er Don Julius in größter Erregung antraf, seine braunen Augen von jenem Glanz erfüllt, den er seit vielen Jahren fürchtete.
»Ah, da seid Ihr, Maître«, rief ihm Julius entgegen, »bringt mich eilends in den Thronsaal. Gleich werden ja die Leute aus der Stadt heraufkommen, Ratsherren, Ritter, Zunftvorsteher, um sich vor ihrem neuen Herrn zu verbeugen.«
»Vortreffliche Vorsätze, Excellence«, lobte d’Alembert, »aber um sieben Uhr in der Frühe .«
»Gehen wir, Maître, Ihr werdet schon sehen!«
D’Alembert fand sich am Ellbogen gefasst und aus dem Salon gezogen, auch das war nie zuvor geschehen. Seit Jahr und Tag war er derjenige, der den Kaiserbastard antrieb, immer darauf gefasst, dass sich Julius mit der Wildheit eines Raubtiers zu entwinden suchte.
Schon nach wenigen Schritten war der Maître in seine Rolle zurückgeglitten. Er winkte einen Lakaien herbei und ordnete an, im Großen Saal für zwei Dutzend Personen aufzudecken, das engere gräfliche Gefolge aus den Betten zu scheuchen sowie im Audienzsaal die Fenster aufzureißen. Schließlich war er mit jeder Laune seines Schützlings seit bald zwei Jahrzehnten vertraut - nun, mit fast jeder; aber wieso Julius plötzlich danach lechzte, im Morgengrauen auf dem bisher so verabscheuten Grafenthron Platz zu nehmen, würde sich zweifellos sehr bald zeigen.
Während der Diener davoneilte, führte er den Kaisersohn durch die Flucht prachtvoller Salons, die sie seit Jahresanfang allesamt mit neuen Tapeten und Lüstern ausgestattet hatten, das Kristall nicht von den allerersten Glasschleifmeistern, aber doch aus böhmischen Manufakturen von untadeligem Ruf. Von sich aus würde Julius den Unterschied ohnehin nicht bemerken, sagte sich der Maître, wenn nur niemand aus seinem Gefolge, der spitzzüngige Maler da Biondo oder der allzu redselige Medikus von Rosert, auf die Idee kam, sich vor Julius’ Ohren nach dem Namen des Schleifmeisters zu erkundigen. Aber das galt mehr oder minder für alle Gegenstände, die er in Auftrag gegeben oder erhandelt hatte. Die erstklassigen Adressen, bei denen die Prager kaiserlichen Hofmeister einzukaufen pflegten, kamen für Burg Krumau schlichtweg nicht in Betracht, auch wenn er selbst und Katharina da Strada Ihrer Kaiserlichen Majestät eine stattliche Apanage abgelistet hatten: dreißigtausend Gulden aufs Jahr, dazu ein einmaliges Handgeld von zwanzigtausend Talern rheinischen Goldes. Ohnehin war der allergrößte Teil der riesenhaften Burg noch immer jämmerlich verwahrlost.
Kein Grund zu verzagen, munterte sich der Maître auf. Zumindest waren sie nun endlich in Krumau eingezogen, bald zwei Jahre, nachdem er und Katharina den Plan gefasst hatten, Rudolf die alte Rosenberger Herrschaft für seinen Bastardsohn abzuschmeicheln. Und kaum hatte er heute die Nachricht von der mütterlichen Mätresse erhalten, da schien Julius mit dem eben noch verhassten »Verbannungsort« auch schon auf wundersame Weise versöhnt. Doch diesem Stimmungsumschwung war keineswegs zu trauen.
»Seht dort, die Goldtapisserien, und da drüben, Excellence, eine Pariser Rarität ...« Während sie eilends voranschritten, deutete d’Alembert mit seinem Stöckchen immer wieder auf Gemälde, Wandbehänge, Möbelstücke, die er in den letzten Monaten erhandelt hatte, dazu murmelte er Erläuterungen und ließ Julius keinen Moment lang aus den Augen.
Denn der Maître glaubte an Einbildungs- und Willenskraft, nicht an wundersame Wendungen. Und dass den seelischen Aufschwüngen seines Schützlings ebenso jähe Abstürze zu folgen pflegten, wusste er aus mannigfaltiger Erfahrung. Aber warum auch immer Julius sich so plötzlich mit Krumau zu arrangieren schien - er würde ihn mit aller Kraft in seinen Plänen bestärken, damit der kaiserliche Zorn sie nicht beide elendiglich verdarb.
10
Der Große Saal war ein Mirakel der Grotesken- und Trompe-l’œil-Malerei. Hinter Säulen und Hecken tummelten sich Satyrn und Nymphen in blankem Ergötzen, bronzene Jünglinge umschlangen einander zu attischem Wettstreit, Musikanten mit Lauten und Harfen spielten auf einer Lichtung für sinnenfrohe Dämonen zum Tanz auf.
Und dies alles war Illusion und Täuschung, getupft und gepinselt mit Ölen und Farben, dachte d’Alembert, aber wie meisterlich gemalt, wie wahrhaft göttlich vorgetäuscht. Er war auf der Schwelle stehen geblieben, eine Hand in der Armbeuge seines um anderthalb Häupter höher gewachsenen Schützlings, dem nichts anderes übrig blieb als gleichfalls in der Tür zu verharren. »Ein Ort der Glückseligkeit«, sagte d’Alembert und bemühte sich, seiner Stimme Wärme zu verleihen, »un paradis pour Vous, Excellence!«