Ich muss Geduld haben, beschwor sich Markéta, warf die Decken zur Seite und sprang aus dem Bett. Fröstelnd wollte sie nach ihrem Kleid greifen, da hörte sie einen scharfen, ratschenden Klang vom Salon her, warf mit fliegenden Fingern bloß ihr Nachtgewand über und zog die Tür auf.
Leer lag der Salon im grauen Morgenlicht. Unten in der Stadt wurde eben die Stunde geschlagen, mit angehaltenem Atem zählte sie mit, während sie barfüßig über die Schwelle tappte: vier dumpfe und zwei dünnere Schläge, halb fünf.
»Julius?«
Keine Antwort. Sie zog das Hemd über ihrer Brust zusammen, schlaftrunken ging sie auf den Prunksessel zu und versuchte zu begreifen, was passiert war. Offenbar hatte er seine Gemächer verlassen, allein, aus eigenem Antrieb, zum ersten Mal seit jenem Dezembertag, als der Puppenmacher mit Flor davongeflogen war.
Da sollte sie sich doch freuen, dass seine Gesundung so ungestüm voranzuschreiten schien? Markéta sah sich nach allen Seiten um. Irgendetwas war anders, als es sein sollte.
Ihr Blick glitt über den Thronsessel und das Porträt, dann hinüber zu den Fauteuils, wo sie mit der Stradovä gesessen hatte, und zurück zur Staffelei.
Der Atem stockte ihr. Das Bildnis! Wie ist das nur möglich? Was hat es zu bedeuten? Das leere Gesichtsoval aus der Leinwand herausgeschnitten, weshalb um Himmels willen hat er das gemacht? Mit einem Mal begann ihr Herz zu rasen.
Und womit zerschnitten?, flüsterte eine Stimme in ihrem Innern. Mit einem Messer? Wo hat er’s her? Da war sie schon aus der Tür, rannte durch den Flur voller Ahnenbilder und tappte die eiskalten Stufen hinab.
Unten im Hof blieb sie stehen, mit fliegendem Atem, und sah sich wieder nach allen Seiten um. Noch immer war es beinahe Nacht, der Himmel von der Farbe schmelzenden Bleis. Da hörte sie Schritte, fuhr herum, und dort unten lief er, Julius, auf den Durchgang zum zweiten Burghof zu.
Sie öffnete schon den Mund, um nach ihm zu rufen, doch dann ging’s ihr durch den Sinn: Besser, er merkt nicht, dass ich ihm hinterherschleich. Im wehenden Scharlachmantel, in der Hand etwas Dunkles, Unförmiges tragend, seine Krone tatsächlich wieder auf dem schlafzerzausten Haarschopf, lief er mit raschen Schritten über den Hof.
Die Kälte kroch aus dem Boden in Markétas Beine, der frostige Märzwind fuhr unter ihr Gewand und ließ sie am ganzen Leib erschauern. Mit beiden Händen raffte sie das Hemd über dem Busen zusammen und hastete hinter Julius her.
Tu’s nicht, schrie die Stimme in ihrem Innern, denk dran, was die mütterliche Mätresse gesagt hat: Er ist wahnsinnig, er hat Mariandl mit dem Beil erschlagen!
Ist er nicht, hat er nicht!, hielt sie dagegen, während sie sich in den gemauerten Durchgang zum zweiten Burghof drückte. Atemlos sah sie zu, wie Julius zu einer Wandnische trat und die brennende Fackel an sich nahm. Er selbst hat mir ja erzählt, was damals wirklich passiert ist: Die mondsüchtige Waldstein ist vor seiner Tür herumgeschlichen. Bestimmt hat sie das Mariandl umgebracht!
Aber was schleppt er bloß in seiner Linken mit sich? Markéta bemühte sich, ihren keuchenden Atem zu dämpfen, während sie Schritt um Schritt näher heranschlich, in den Mauerschatten gedrückt.
Unterdessen hatte Julius das gedrungene, schwärzliche Ding bis vor sein Gesicht emporgehoben, und Markéta sah sie beide im Proficlass="underline" Julius’ Haupt mit der achteckigen Krone und Lenkas verschrumpften Lederknaben, dessen Auge im Fackellicht zu ihr herüberglänzte.
Also hat Julius das Büblein im Glas entwendet? Im ersten Moment fühlte sie nur Verblüffung: Was will er bloß damit? Schon Anfang des Jahres war das Steinkind mitsamt Spiritusballon verschwunden. Sie hatte angenommen, dass die Waldstein oder ihre Nonnen den »Satansbalg« beseitigt hatten, und die Angelegenheit im Wirrwarr der traurigen Ereignisse bald wieder vergessen.
In diesem Augenblick erst, als ihre Gedanken bis hierher gekommen waren, durchfuhr Markéta eisiges Entsetzen. Unverwandt sah sie zu Julius und dem Satansfratz hinüber, dessen schwärzlicher Lederleib vor Feuchtigkeit glänzte. Als er den Fetus vor acht Wochen entwendet und versteckt hat, dachte sie, stand seine Seele noch ganz unterm Bann des Puppenmachers. Wenn er aber nun zu seinem Versteck geschlichen war und die Mumie aus ihrem Spiritusbad gezogen hatte, dann hieß das doch, dass seine Seele immer noch - oder aufs Neue - in der Gewalt des Lumpenteufels war.
Was bei allen Heiligen hatte Julius vor?
Wieder wollte sie seinen Namen rufen, wieder zögerte sie -nicht aus Angst um ihn, wie sie sich sagte, sondern aus Sorge, ihn endgültig an den Teufelsmagister zu verlieren. Wenn er entdeckt, dass ich ihm voller Argwohn folge, wird er mir nie wieder vertrauen, und seine Seele kann sich nie mehr aus der Verpuppung befreien.
Noch immer klopfte ihr das Herz bis in die Kehle. Julius ging nun quer über den Hof aufs Gewölbetor zu, in der einen Hand das Steinkind, in der andern die brennende Fackel. Markéta folgte ihm auf weichen Knien, zitternd vor Kälte, sich in den Mauerschatten drückend, der bei grauendem Morgen immer dürftiger wurde, fadenscheinig wie der zerschlissene Seidenmantel auf Julius’ nacktem Leib.
Jetzt setzte er das Satansbalg auf seine Schulter, sodass es sich mit Knien und Händlein anzuklammern und zu Markéta hin ins Dämmerlicht zu spähen schien. Sein gekröntes Haupt reckte sich empor, als er den Riegel beiseite stieß, dann schwang mit einem dumpfen Stöhnen das Gewölbetor auf.
Julius legte seine rechte Hand auf den Rücken des hockenden Balgs und lief mit hastigen Schritten in Hezilows Unterwelt hinab.
90
Das Doppel-Ei des Athanor glühte, geschäftig ging Julius vor dem Ofen hin und her. Er füllte Wasser in einen Kristallballon und setzte ihn auf den Herd, gab Tropfen aus Flaschen und sämige Spritzer aus Phiolen hinzu.
Hinter einer Säule verborgen, sah Markéta ihm zu, überwältigt von Mitleid mit ihrem Geliebten. Etwas Schreckliches war mit Julius geschehen. Sein Gesicht war gänzlich verändert, und sie wusste nun, dass die Umnachtung nicht mehr von ihm weichen würde. Seine Augen von roten Schlieren durchzogen, mit milchigem Glanz überdeckt, seine Züge zerflossen, die Unterlippe unablässig zitternd, so als ob Schmerz oder Ekel, die seinen Mund früher zuweilen zucken ließen, nun unentwegt an ihm fräßen.
Auf der Tischplatte vor ihm hockte der versteinerte Knabe, zu seiner Rechten die Silberkrone, zur Linken das akkurat aus der Leinwand geschnittene Oval.
Seinen Krönungsmantel hatte Julius in den Athanor gestopft und dann, vor dem Ofenfenster kauernd, lange zugesehen, wie der Umhang von den Flammen verzehrt wurde. Splitternackt lief er hin und her, und als es in der Kristallkugel zu brodeln begann, nahm er seine Silberkrone und warf sie hinein.
Sein Gesicht, seine Bewegungen, alles an ihm glich nun dem Raubtier, an das er sie von Anfang an erinnert hatte. Ein junger Wolf von glatter Schönheit, doch obwohl sie auch die Gefahr, die von ihm ausging, niemals stärker empfunden hatte, verspürte sie keinerlei Angst. Er tat ihr nur Leid, so furchtbar Leid, dass es ihr fast das Herz zerdrückte.
Mit einem hölzernen Löffel rührte er die kochende Brühe um, in der die Silberkrone blitzte, dann wandte er sich um, sah forschend in Markétas Richtung und zog mit einer schnellen Bewegung das Steinkind zu sich heran.
Er drückte es mit dem Rücken auf die Tischplatte, nahm den fleischfarbenen Leinwandfetzen und presste ihn auf das schwärzlich verschrumpfte Gesicht. Auch der Grunzlaut, den er nun ausstieß und der unverkennbar Befriedigung ausdrückte, erinnerte Markéta an ein wildes Tier. Tatsächlich entsprachen Größe und Umriss des leeren Ovals so genau dem Lederfrätzlein, als ob der Satansbalg und nicht er selbst dem Maler Modell gesessen hätte.