Ein wenig sanfter, sag ich, denn Frieden fand er niemals mehr. Nicht für die Dauer eines Wimpernschlags, nicht als Mensch und nicht als Tier, nicht wachend und nicht schlafend.
Glaubt’s oder nicht, mir ist es gleich, Madame, ich selbst wollte’s ja die längste Zeit nicht glauben. Und doch war’s so, auch wenn niemand außer Julius ihn zu Gesicht bekam: In seiner Zelle hauste Flor.
Der Nabellose, Katharina, Ihr besinnt Euch? Keine jener belanglosen Leichen, deren Anblick edle Augen so belästigt, auch keiner von den unerheblich Lebenden, die immer nur lamentieren, weil ihr Fraß zu karg, die Kammer kalt, das Wams zu fadenscheinig wär. Nein, Madame, bei Eurem Sohn im Stroh saß die geheimnisvollste Kreatur, die je ein Mensch zu sehn bekam. Ihr kennt ihn nur vom Hörensagen, haltet ihn wohl für eine Traumgestalt, von Angst und Aberglauben ausgesponnen. Ich aber, Katharina, hab mit ihm ein Bett geteilt, wie ein Bruder war Flor für mich und mehr, viel mehr: wie eine zweite Hälfte meiner selbst.
»Ha, da kraucht der Nebelschelm!« So klagte Julius immer, wenn der Nabellose ihn wieder mal zum Besten hielt. »Was willst du, Goldkopf, lass mich, fort mit dir!« Und dann schlug er um sich, machte wilde Sprünge in die Luft, warf sich bäuchlings ins Stroh, die Arme nach vorn gereckt, als ob seine Hände sich um eine unsichtbare Kehle schlossen. Um aber gleich danach wieder aufzublicken, die Wand hinauf, wo in Schulterhöhe ein schmales Fenster in die Turmwand eingelassen ist, hinaus auf den Bärengraben. »Verfluchter Mondsack, dich krieg ich!« Wieder sprang er auf, seine Hände packten die Gitterstäbe im Fenster, und im Nu zog er sich zur Scharte empor. Aber der zierliche Flor schien schon auf und davon, zwischen den Stäben hindurch, die für Julius’ Gestalt zu eng beisammen standen.
Wie Leid er mir da tat, Katharina, Euer Sohn, wenn er wieder ins Stroh hinabgesprungen kam, zornig und verzweifelt, da der Nabellose ihn wieder gepiesackt hatte und ihm abermals entkommen war.
»Behauptet, ich wär schuld, dass er hier rumgeistern muss, der arge Schattennarr«, klagte er dann zu mir herüber, ohne mich oder Melchior jemals wahrzunehmen. »Fordert, ich sollt mit ihm gehen, ihm auf die andre Seite helfen, damit endlich Frieden wär, für seine Seele und für meine auch.«
Dann konnte’s geschehen, dass er wieder in Tränen ausbrach, Madame, mein starker Julius wie ein kleines Kind in sich zusammensackte und weinte, weinte, Katharina, wahrhaftig wie der Wolf, der manchmal droben im Schlosspark saß und die halbe Nacht den Mond anheulte!
Bis Hoyos’ Gardisten es nicht mehr ertrugen und mit dem schwappenden Bottich herbeigestürmt kamen: »Maul halten, Exzellenz, oder einen Schwall kaltes Wasser übers Haupt - das kühlt Euch und Eure Spukgeister ab!«
Und dann wieder Euer Sohn, Katharina: »Die Schwarte schab ich euch scheibenweis vom Gebein!«
Spätestens da fing auch Euer Enkelchen an zu schreien, verängstigt durch die Flüche seines Vaters, und wie erst durch den Wasserschwall, der durchs Gitter in Julius’ Zelle klatschte. Pudelnass hockte er dann in einem Winkel, leise wimmernd, die Knie an die Brust gezogen, die Stirn auf seinen Armen, und schaute niemals auf, kein einziges Mal, Katharina, wenn ich ans Gitter trat, um ihm für diesen Tag Adieu zu sagen.
»Auf bald, mein geliebter Herr.« Darauf antwortete er so wenig, als hätte ein Hund drunten in der Stadt gebellt.
Und doch hab ich nie aufgehört, ihn zu lieben, und doch hätte ich alles getan, um ihn weiter besuchen zu können, dreimal die Woche oder mehr. Alles, alles, Madame, mehr, sehr viel mehr als nur mit dem Brodner Franz schönzutun, damit er’s mir nicht übel nahm, wenn ich wieder hinauf zum Hungerturm schleichen musste. Denn ich konnte ja nicht anders, Julius ist mein Mann, auch wenn ich mich dem Franz vermählen ließ. So wie auch Mutter Bianca einst dem Bader Treue schwor, obwohl ihre Seele droben in der Burg geblieben war.
Meine Seele war bei Julius im Hungerturm, Madame, und Julius’ Seele war beim Lumpenteufel. Ist das nicht sonderbar?
Sein Körper saß im Kerker, und mein Leib lag in Franzens Armen. Meine Lippen und Hände liebkosten meines Gemahls Gemächlichkeiten, und währenddessen haschte droben Julius mit zitternden Fingern nach Flor!
Ich hatte mich in diesem grauen Albtraum eingesponnen, Katharina, niemals vorher hatte ich mir vorgestellt, dass es auch mir ergehen könnte wie Mutter Bianca: von der Burg hinabgestürzt »wie eine Spielfigur, die über den Rand des Schachbretts fällt«, wie d’Alembert einmal sagte. Ah, Euer eleganter Trübsinn, Maître! Mir selbst ist nur der Trübsinn geblieben, und ein Kübel fiebrig bunter Erinnerungen.
Wart Ihr erstaunt, Katharina, als im Februar auf einmal alles endete? Verzeiht die närrische Frage: Für Euch endete ja nichts, was irgend in Eure weiße Welt hineingespielt hätte. Euren Sohn Julius hattet Ihr längst verloren gegeben, es war nur noch die Bestätigung, dass Ihr damals recht gehandelt hattet. Die Umnachtung umfing ihn bis zuletzt, wie von Euch vorausgesagt, er hätte Euch nimmermehr erkannt (zu Eurem Glück, nebenher gesagt), selbst wenn Ihr bei ihm im Stroh gehaust hättet; also habt Ihr Euch nichts vorzuwerfen. Schon wieder untadelig, Katharina! Wenn Ihr ahntet, wie sehr ich Euch bewundere.
Das Gitterfenster in seiner Zelle ließ sich bewegen wie ein gewöhnliches Fenster, zuweilen wurde es geöffnet, wenn der Sturm den Laden aus seiner Arretierung gerissen hatte. Danach mussten die Wächter es wieder mit Riegel und Schlüssel verschließen, doch diese Pflicht wurde an jenem Tag versäumt.
Am 18. Februar 1609 A.D. einem frostklirrenden Mittwoch, Katharina, dem Tag, an dem Euer Sohn Julius elender starb als der verdroschenste Straßenköter in der dreckigsten Gasse zu Krumau oder Prag.
Da war ich grad wieder auf Besuch bei ihm, Euer Enkelkind in meinem unversehrten Arm. Es muss um die Mittagszeit gewesen sein, als Julius, nach langem, schrecklichem Kämpfen mit dem Nabellosen, auf einmal zum Fenster emporsprang, mit einem Knie auf der Brüstung Halt fand, die Schultern seitlich durch die Bresche zwängte und im nächsten Augenblick schon draußen war, zwanzig Schritt überm Bärengraben.
Ich glaube fest, dass er schon nicht mehr mitbekam, wie die Bären ihn mit ihren Schnauzen und Pratzen umherwälzten, bis er wie ein großer Schneemann aussah, blendend weiß und von roten Schlieren bedeckt. Und niemals werd ich glauben, Katharina, dass der Kadaverklumpen mit den ausgefressenen Augenhöhlen, den der Flößer Kudaçek tags drauf aus der Moldau fischte, der Leichnam meines lieben kleinen Flor war -nie und nimmer, Madame!
Letzte Nacht träumte mir, dass Melchior in den Krieg ziehen müsste, ein Knabe von allenfalls dreizehn Jahren. Die Welt brannte, Katharina, von Horizont zu Horizont, überall stieg Rauch aus eingeäscherten Weilern und Höfen auf. Schnee bedeckte Wege und Felder, trotzdem liefen Tausende nackter Leute in meinem Traum herum, schreiend, die Ohren abgeschnitten, die Nasen abgehackt, die Augen ausgestochen.
Da kam eine prachtvolle Kutsche des Weges, Madame, von vier Schimmeln und vier Rappen gezogen. Darin saßen die väterliche Majestät und Ihr selbst, Madame, gehüllt in eine Wolke aus glitzernd weißer Seide.
Raben flogen krächzend auf, so zahlreich, dass sie den Himmel verdunkelten. In dieser plötzlich hereingebrochenen Nacht kam Eure Kutsche vom Weg ab, kippte um und kollerte eine Böschung hinab, so unwirklich langsam, wie es im Traum zu sein pflegt.
Die Nackten ohne Ohren und Nasen kamen gleich herbeigelaufen, sie drängten sich über der Unglücksstätte zusammen, und wer noch Augen hatte, berichtete den andern, was dort unten, am Fuß der Böschung, zu sehen war. Die Kutsche ein Wirrwarr aus zersplittertem Holz und verbogenen Goldbeschlägen, die Pferde wild durcheinander wiehernd, in acht verschiedene Richtungen zerrend.