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D’Alemberts Erfindungsreichtum war unerschöpflich, wenn es galt, Gründe, Ausreden, Vorwände zu ersinnen, warum er, Don Julius, möglichst keine Minute lang allein sein durfte. Der frettchenhafte Giacomo da Biondo mit der Vorliebe für zitronenfarbene Schnabelschuhe war bloß der vorläufig letzte in einer langen Kette von Betreuern, Überwachern, Begleitern, die in d’Alemberts Auftrag ein Auge auf Julius hatten, seit der auch nur einen Finger aus eignem Antrieb regen konnte. Und die Baderstochter Markéta war nur die vorläufig letzte in einer ebenso langen Kette von Personen, die der Kaiserbastard an sich zu ziehen suchte, um nicht ganz allein gegen die Truppen des Maître zu stehen oder um sich für seine immerwährende Ohnmacht zu rächen, zumindest durch Subversion.

Auch das syrakusische Zwillingspärchen, das zu seinen Füßen auf dem Teppich lag und einander mit Zungen und Zehen liebkoste, hatte er hauptsächlich deshalb in sein Gefolge aufgenommen: weil er sofort gespürt hatte, wie sehr die beiden den Maître irritierten, d’Alemberts bemerkenswerter Selbstbeherrschung zum Trotz. Fabrio sogar mehr noch als Lenka, wie Julius nun dachte, denn Mädchen oder Frauen, ob halbnackt wie das schwarz gelockte Hürchen oder von fünf Röcken umschlossen wie Johanna von Waldstein, ließen den alten Charles ganz und gar kalt.

Johanna - für einen Moment sah er das hagere Vogelprofil seiner ewigen Verlobten vor sich, die im Hradschin zurückgeblieben war, glücklicherweise. Johanna, die Frömmlerin, möge sie in Prag verdorren, dachte er. Während da Biondo hingebungsvoll an seinem Gemälde tüpfelte, sprangen Julius’ Gedanken weiter, und auf einmal erblickte er sich selbst als Knaben von fünf oder sieben Jahren, wie er durch den Hradschin geschlichen war, auf der Fährte der väterlichen Majestät. Sein Platz war an der Seite des Kaisers, ja wo denn sonst? Schließlich war er der erstgeborene Sohn, und eines Tages würde er auf dem Thronsessel im Audienzsaal sitzen, umringt von murmelnden Ministern und buckelnden Lakaien. Und Julius sah sich selbst, wie er als kleiner Knabe durch Flure pirschte und sich in Erkernischen drückte, wie er seine Hand nach riesenhaften Klinken reckte und in Dämmersäle, Geisterkabinette spähte, immer auf der Hut vor dem Maître, der jeden Moment aus einer Tapetentür treten konnte, sein Stöckchen auf die Brust seines Schützlings richtend.

Ah, was für eine Lust, den unerbittlichen d’Alembert zu überlisten! Und wie flau er sich zugleich fühlte, wenn’s ihm wieder mal gelungen war. Der Maître würde ihn für sein Vergehen bestrafen, mit ausgesuchten Bußen, wie nur d’Alembert sie ersinnen konnte, und doch trieb es Julius immer wieder, seinem Bewacher zu entschlüpfen, aus den Infantengemächern in die obere Burg zu fliehen, wo sich die väterliche Majestät bei Tag und Nacht in den eigenartigsten Tätigkeiten erging.

Die Prager Hofburg war eine ganze Stadt, ja eine Welt für sich, mit hundert Häusern, zehntausend Kammern und Sälen, die allesamt durch ein Labyrinth aus Gängen, Treppen, Geheimtüren verbunden schienen. Überall huschten Diener in bunter Livree herum, schlurften Beamte, die gepuderten Perückenköpfe im Gehen über Schriftstücke beugend. In endlosen Fluren saßen Edle in spanischer Tracht, aufgereiht wie Trauervögel, und warteten seit Stunden oder Tagen auf eine Audienz bei Ihren Durchlauchtigsten Gnaden. Lakaien lächelten Julius zu, Kammerherren runzelten graue Stirnen, Bittsteller buckelten in Richtung des vorüberschreitenden Knaben, der sich mühte, nach dem väterlichen Vorbild durch sie alle hindurchzusehen.

Einmal dringt Julius bis in einen Bereich der Burg vor, wo er nie zuvor gewesen ist - in ein Kabinett am Ende eines nachtdunklen, nach Schweiß und Galle riechenden Ganges. Leise dreht er den Schlüssel, der auffordernd aus dem Türschloss lugt. Wie ein Schmerz durchzuckt ihn die Ahnung, dass er in diesem Kabinett die Antwort finden wird, auf die Frage nämlich, die seit langem an ihm frisst. Irgendetwas stimmt nicht mit ihm und mit der Welt, die ihn umgibt. Irgendetwas ist falsch und lügenhaft. Er spürt es an tausend geisterhaften Einzelheiten: am Lächeln der Diener und an den Blicken der Kammerherren, an den erkaltenden Zärtlichkeiten der mütterlichen Mätresse und dem Augenzucken, das die väterliche Majestät in seiner Gegenwart befällt. »Schsch, der Bastardsohn«, hat er einmal flüstern hören, als er ein kaiserliches Vorzimmer betrat, und wie er nachher den Maître fragt, wiegelt der auf eine Weise ab, dass Julius jahrelang nicht wagt, zu dieser Frage zurückzukehren. Bastardsohn, seither gaukelt das Rätselwort durch seinen Kopf und seine Träume. Was verbergen, was verschweigen sie nur allesamt vor ihm? Ein Lügengespinst, wahrhaftig wie Spinnweb: Man greift hinein und bekommt nur Fetzen zu fassen. Ich bin sein erstgeborener Sohn, und eines Tages werde ich das kaiserliche Zepter tragen, denkt Julius zum hundersten oder tausendsten Mal, hält den Atem an und schiebt die Tür zum Kabinett auf.

Der Anblick im Innern ist so unerwartet, so sehr aus seinen eignen Schreckensträumen geboren, dass er beinahe aufgeschrien hätte. Im nächsten Moment wird ihm klar, dass die zierliche Gestalt mit dem wächsernen Antlitz über blauer Seidenweste, die in der Kammer vor ihm steht, niemand als er selbst ist, vielmehr sein von Kerzen beschienenes Abbild in der Spiegelwand vis-à-vis. Zu seiner Rechten aber hockt ein kleiner Bursche am Boden, von Kopf bis Fuß braun befeilt, die überlangen Gliedmaßen um den klobigen Rumpf gelegt.

»Ah, mein Bascardbruder«, nuschelt der Kerl, springt Julius aus dem Spiegel entgegen und packt mit pelziger Pratze seine Rechte, um sie kraft- und endlos zu schütteln.

Diesmal kann Julius den Schrei nicht unterdrücken. Er reißt seine Finger aus der Tierpfote heraus, stößt den »Bastardbruder«, der ihm hinterherstürzen will, ins Kabinett zurück, zieht mit schlotternder Hand die Tür zu und dreht den Schlüssel, während der pelzige Schelm drinnen am Riegel zerrt. »Bruder«, hört er, »Bastard -Julius, wie du!«

Er presst sich die Fäuste auf die Ohren und rennt davon, durch den nachtfinstern Flur zurück, Treppen hinauf und hinab, durch Gänge, Dämmersäle, Geistergemächer. Er ist viel zu durcheinander, um auf seinen Weg zu achten oder auf die Diener und Kammerherren, die Blicke wechseln, während er an ihnen vorüberjagt. So hat der Maître diesmal leichtes Spiel, doch auch das ist Julius gleich, ja mehr noch, es scheint ihm nur allzu richtig, dass d’Alembert ihn grausamer als je zuvor bestraft.

Niemals erwähnt Julius vor irgendwem, wen er in jenem Kabinett gesehen hat, und niemals versucht er dorthin zurückzukehren. Noch während er an jenem Tag vor d’Alembert kniet - halbnackt, zitternd vor Kälte, einen schweren Lederfolianten auf dem Kopf balancierend -, sagt er, mehr zu sich selbst als zum Maître: »Und doch werd ich eines Tages das väterliche Zepter tragen, wartet nur.«

»Schweig, Knabe!«, befiehlt d’Alembert mit einer Miene, in der sich Strenge und Erschrecken aufs Wunderlichste mischen.

Nicht lange danach begann sich Julius zu fragen, ob er dem pelzigen Burschen vielleicht bloß im Traum begegnet war. Aber ob in Wahn oder Wirklichkeit, der befeilte Kerl hatte jedenfalls wahr gesprochen: Am Morgen seines achten Geburtstags erklärte ihm d’Alembert, dass er niemals eines der väterlichen Reiche erringen könne, weder das Zepter des Kaisers noch die böhmische Wenzelskrone, da er »bloß in tierischen Begriffen Rudolfs Sohn« sei.

16

Die Gemächer des Regenten lagen jenseits des Spiegelsaals, im äußersten Westflügel der Burg. Diesmal waren es Bronja und Lisetta, die Markéta durch Flure und Zimmerfluchten führten, Treppen hinab und Stiegen wieder hinauf. Angestrengt versuchte sie, sich den winkelreichen Weg einzuprägen. Da hatte sie bald zwei Jahrzehnte im Schatten der Burg gelebt und doch nie geahnt, wie ausgedehnt der Herrschersitz auf dem Moldauhügel war. Vor bald sechs Jahren, als sie, fast ein Kind noch, kurzzeitig in den gräflichen Küchengewölben Dienst getan hatte, war sie niemals über den alleruntersten Burghof hinausgekommen, der sich unmittelbar hinter dem Zugtor über der Stadt erstreckte und damals eher einem Bauernhof ähnelte -erfüllt von den Gerüchen und Geräuschen des Viehs in den Ställen, von den Rufen und Flüchen der Meier und Müller, Bäcker und Schlächter, die im Schatten des alten Hungerturms werkten.