»Heda?«
Keiner da.
So fuhr er bald jede Nacht aus dem Schlaf, bedeckt mit kaltem Schweiß. Das Zimmer schwarz, auch vorm Fenster noch finstere Nacht. Sein Herz klopfte wild, dabei erinnerte er sich an keinen Fetzen eines Traums. Still lag er auf seinem Bett und horchte in die Dunkelheit.
»Mariandl?« Kein Laut, nicht mal ein wisperleises Atmen im Schlaf. Also hatte er alles bloß geträumt: wie das Mariandl ihn durch krumme Gassen schleppte, erst in die Hollerschenke, dann zum zwergenhaften Sternengucker, und wie sie nachher hier bei ihm im Himmelbett lag?
»Jemand da?« Keine Antwort, nichts. Julius tastete auf den Laken umher, und seine Finger glitschten durch klebrige Feuchtigkeit. Ei, wie denn das? Er wälzte sich aus dem Bett und stieß mit dem Fuß gegen ein klobiges Ding, das mit einem Klirren protestierte. Nackt tapste er durchs Dunkel, blindlings um sich tastend, bis er endlich die Tür an seinen Fingern fühlte. Er zog sie auf, und ein Schwall Lampenlicht schwappte aus dem Flur herein. Hinter seiner Stirn auf einmal wieder jenes Sausen. Er sah an sich herunter, und da war alles rot, auf seiner Brust, seinem Bauch, an seinen Händen und Armen, alles beschmiert mit einem widerlichen Gemenge aus geronnenem Rot und traumkaltem Schweiß.
Julius wandte sich zum Bett um. Es lag im Dunkeln, jenseits des Rechtecks aus trübem Licht. Er langte in den Flur hinaus, nahm eine Laterne vom Wandhalter und trat zurück in sein Gemach. Den Blick gesenkt, die Lampe erhoben, ging er auf sein Bett zu, so langsam wie im Traum. Aber es war kein Traum, es war ein rot beschmiertes Beil am Boden, das neben dem Bettfuß lag, als ob es seiner Hand im Schlaf entglitten wäre, und es waren Mariandls Augen, so groß, so starr über einem winterkalten Grinsen, dem alle Zähne ausgefallen waren.
EINS - SUBLIMATIO
»Erhöht das Trockene durch Feuer im Tiegel, um die gröbsten Unreinheiten der prima materia zu entfernen.«
1
»Zum hundertsten Mal, Maître: Als ich zu mir komm, liegt sie neben mir in ihrem Blut, mehr weiß ich nicht.«
Mit knarrendem Achswerk holperte ihre Karosse durch Schlaglöcher, über Steinbrocken, Wurzelstrünke, dass Julius und d’Alembert wie Puppen hin und her geschaukelt wurden.
»Ich kenn dieses Mariandl ja gar nicht - eine Hur aus der Hollerschenke, warum sollt ich der ans Leben gehen?«
Maître d’Alembert lächelte ihn nur an, sein Gesicht wie immer eine weiße Maske mit wasserhellen Augen und gespitztem Tollkirschmund. Julius hatte ihn rufen lassen, und unverzüglich, den Schlaf noch in den Augenwinkeln, hatte d’Alembert begonnen, Vorkehrungen zu treffen und Befehle zu erteilen. Julius war ins Bad geschickt worden, und als er in seine Gemächer zurückkam, gesäubert und von seinem Kammerdiener Robert angekleidet, da waren vom Mariandl kein roter Spritzer und kein schwarzes Löckchen mehr zu sehen. Noch vor Sonnenaufgang hatten sie Prag verlassen, heimlich wie fliehende Diebe. Seither rumpelte ihre Kutsche moldauabwärts, die Fenster mit weißen Tüchern verhängt. Alles musste bei d’Alembert weiß sein, so weiß wie seine gepuderte Perücke, wie die Strumpfhosen, die sich um sehnige Fechterbeine spannten, wie die gelackte Weste oder das gedrechselte Stöcklein, mit dem er nun den Vorhang vorm Seitenfenster hob.
Ein greller Sonnenstrahl drang in die Kutschkabine, widerwillig schielte Julius hin. Ah, wie er die Sonne hasste, überhaupt diese fürchterliche Frühlingsheiterkeit! Seit Stunden schon holperten sie den Fluss entlang, auf schmalen Sträßchen, dem wie vor Wut sich windenden Wasserlauf folgend. Und in seinem Kopf immer noch diese Dumpfigkeit, darin die Stimmen Mariandls und des Sternenguckers hallten: »Nur ein paar Schritte noch - alles für Euch, herrliche Gnaden, aber nicht hier!« Am liebsten hätte er die Fäuste auf seine Ohren gedrückt, doch wenn er die Hände öffnete und schloss, war’s ihm immer noch, als fühlte er klebrig-feuchtes Rot. Mariandl, dachte Julius, wie kann’s nur sein, ich war’s nicht, und ich begreifs nicht.
»Alles wird sich weisen, nur ruhig Blut, Excellence. Das Mädchen wird außerhalb der Burgmauern gefunden werden, keine Sorge, dennoch müssen wir sichergehen.« Mit samtener Stimme sprach d’Alembert nun auf ihn ein, als gelte es, einen Tobsüchtigen einzulullen. »Sollte trotzdem ein Verdacht auf Euch fallen, so ist es besser, wenn Ihr fernab von Prag weilt. Wer würde den Grafen von Krumau mit einer solchen Affäre in Verbindung bringen?«
»Aber mein Platz ist in Prag!«, schrie Julius auf. »Bringt mich zurück, ich fleh Euch an, d’Alembert!«
»Ihr dürft Euch glücklich schätzen, Excellence, dass Eure Frau Mutter und ich seit Jahr und Tag alles vorbereitet haben.« Nur der Schweiß auf d’Alemberts Stirn und Wangen verriet, dass er seinen eignen Worten nicht vorbehaltlos traute. Dicke Tropfen, die seine Schminke zersetzten und die Falten offenbarten, die dreiundvierzig Lebensjahre eingegraben hatten, davon bald zwei Jahrzehnte als Erzieher des Kaisersohns. »Krumau wird Euch gefallen, wartet nur ab.«
D’Alembert zog sein Stöckchen zurück, und der Vorhang fiel herab.
Er glaubt mir kein Wort, dachte Julius, aber wie auch: Ich trau mir ja selbst nicht mehr übern Weg. Schon einmal war’s so brandrot über ihn gekommen, auch sie ein Hurenweib, um deren prallen Hals sich plötzlich seine Hände schlossen. Aber warum auch hatte sie ihr Frätzchen breit gezogen: »Ah, Herr Bastard, Ihr macht’s mir gut!« Wenn er eins ums Verrecken nicht vertrug, dann dieses Hohnwort: Bastard! Damals hatte der Maître ihn im allerletzten Moment von der Unseligen weggerissen, deren Augen schon wie weiße Kugeln aus der violetten Larve quollen. Aber da hatte er sich wenigstens erinnert, an ihren Hohn, ihr dreistes Lachen - und diesmaclass="underline" nichts! Er hatte sich in ihr verströmt, dann nur noch Schwärze: als ob er wahrhaftig in ihrem Schoß ersoffen wär! Mariandl!
Von draußen drangen Rufe in die Kutschkabine, Julius fuhr aus seinen Grübeleien auf. Er schob den Vorhang zur Seite und spähte neuerlich hinaus. Knapp neben der Fahrspur ging es schroff hinunter, auf bewaldeter Böschung bis zum Bett der Moldau, wo eben in träger Fahrt ein Kahn vorübertrieb. Der dicke Mann auf dem Wasser zog grüßend die Mütze, starr sah Julius auf ihn hinab. Ah, Fischersmann sein, den Wanst auf den Bootsrand stützen und immerdar in die Wellen stieren wie dieser da! Oder Sautreiber, Bader, Schafhirt meinethalben, ein Leben ohne Ehrgeiz, Sehnsucht, Perspektive, im Hin und Her von Brunst und Tran vertan - alles lieber als verbannt nach Krumau, in die grauenvolle Grafengruft!