»Der nabellose Knabe scheint oben im Park zu sein«, sagte er in beiläufigem Tonfall.
Nie zuvor in ihrem Leben war Markéta einem Menschen begegnet, der sich so vollkommen in der Gewalt hatte wie Maître Charles d’Alembert. Sie wandten sich nach rechts, ihre Schritte aufs Neue beschleunigend. Im Trab durchquerten sie den vierten Burghof, wo die Syrakuser und etliche weitere Jugend müßig wie Katzen in der Sonne lagen.
»Wenn sie ihm auch nur ein Härchen krümmen ...!«: Sie stieß es hervor und wusste dann nicht, wie sie ihren Satz beenden sollte, nicht nur des steilen Anstiegs zum Schlosspark wegen, der ihnen beiden die Atemluft nahm. In ihrer Vorstellung lag sie auf einmal rücklings neben Julius, der sich über sie beugte, um Kastanienpaste von ihrer Haut zu schlecken, und die Bauchdecke zog sich ihr zusammen vor lüsternem Behagen, Rasch und reuig dachte sie wieder an den armen Flor, der oben durch den Park hetzen mochte, von den Häschern des Puppenmachers gejagt. »Wenn Hezilow auf der Burg bleibt«, sagte sie keuchend, »muss Flor fort von hier - und ich mit ihm.«
»Das wird keinesfalls gehen«, wandte d’Alembert ein, »Don Julius hat befohlen .« Aber Markéta hörte nicht länger auf ihn. Eben erreichten sie die Ebene über der Burg, wo sich der Schlosspark befand, mit dem künstlich angelegten, streng rechteckig geformten Teich in der Mitte, den eine breite Eichenallee säumte.
Auf der kreisrunden Schwaneninsel inmitten des Gewässers hockte Flor, ein blitzendes Ding in der Hand. Aufgestört fauchten die schwarzen Schwäne, die sich im Dutzend am Rand der Insel versammelt hatten, das Gefieder gebläht und die Hälse gereckt. An jeder Ecke des Teichs stand ein Soldat der gräflichen Salvaguardia, alle vier reglos wie Statuen und offenbar nicht gewillt, zugunsten des Nabellosen einzugreifen. Im Wasser aber trieben nicht weniger als fünf plumpe Boote, die das Eiland in geringer Entfernung umkreisten, besetzt mit ebenso vielen Lumpenkerlen aus Hezilows Gefolge.
»Ich muss zu ihm«, rief Markéta aus, »sofort, Monsieur!«
Charles d’Alembert fasste sie am Arm, als ob er sie zurückhalten wollte. Dann jedoch führte er sie geradewegs auf den Wächter zu, der ihnen am nächsten postiert war. »Steigt ein, Madame«, sagte er, auf das am Ufer liegende Boot deutend, »der Soldat wird Euch zur Insel rudern. Die anderen drei Gardisten sorgen unterdessen dafür, dass Euch kein Leid geschieht, notfalls mit Hilfe ihrer Gewehre.«
Tröstlich gemeinte Worte, dachte Markéta, auch wenn sie weit eher beunruhigend klangen. Und doch fühlte sie sich gelassen und bereit, Flor zu Hilfe zu eilen, als sie ihr Kleid emporraffte und, von d’Alembert gestützt, in den altersschwachen Kahn stieg. Dann erst sah sie, mit jähem Erschrecken, die Wunde auf der Wange des Soldaten, der nach ihr ins Boot sprang, vier blutrote Striemen, die in der Mittagssonne leuchteten.
»Obacht, Badershur«, murmelte Jan Mular, fast ohne die Lippen zu bewegen, »dass bloß die Kerle da draußen dich nicht in ihre Pratzen kriegen.« Und er stemmte sich in die Riemen, dass das Wasser aufschäumte und ihr Boot in wilder Fahrt der Schwaneninsel entgegenflog.
28
Seit dem Morgendämmer war Flor ziellos hier droben durch den Schlosspark gestreunt, gepeinigt von innerer Unrast, die nur umso ärger wurde, je länger er umherlief. Auf einmal hatte er Schritte gehört, hinter sich in der feuchten Wiese rauschend, dazu Wispern und Räuspern aus groben Kehlen. Er hatte sich hinter einem Eichbaum verborgen, doch die Männer, ein halbes Dutzend oder mehr, hatten ihn längst bemerkt. Langsam kamen sie näher, wobei sie sich geschickt im Gelände verteilten, und Flor erkannte, dass sie gekommen waren, um ihn zu fangen.
So war es ihm schon einmal ergangen, ganz genau so! Die Erinnerung traf ihn wie ein Hieb. Für einen Moment sah er alles wieder vor sich: den weiten Park, lieblicher als dieser hier, das herrschaftliche Gutshaus, in der Morgensonne glänzend, viel heller, viel kleiner als die hiesige Burg. Und doch war sonst alles wie damals: Auch dort war er frühmorgens im Park herumgestrichen, hatte auf einmal gemerkt, dass er beobachtet, von schleichenden Schritten verfolgt wurde. Damals hatten sie es geschafft, ihn einzukreisen, immer enger zu umzingeln, bis er plötzlich ihre Hände im Nacken, an seinen Armen gespürt hatte. Diesmal aber rannte er davon, ehe die Falle sich schließen konnte. Und die Lumpenkerle hinter ihm her, unter heiseren Flüchen, über die Wiese, durch Unterholz und Büsche, bis zur Eichenallee am Schwanensee. Atemlos stand er am Ufer, sah nach links und rechts, und von überall kamen die Kerle auf ihn zu. Wie ihre Stiefel im Wegsand knirschten, wie ihre Schatten näher und näher herangaukelten, schaurig lang und spindelspitz in der Morgensonne. Schon roch er den Gestank ihrer Lumpen, schon streckte der Erste eine Pratze vor, um ihn beim Arm zu packen - da machte Flor einen Satz, stolperte und versank im Schwanenteich.
Als er auftauchte, sprangen die Gesellen eben in die Boote, die eins neben dem andern am Ufer vertäut lagen; schon stemmten sie sich in die Riemen und jagten hinter ihm her. Ihr Keuchen in der Morgenstille, die klatschenden Laute, wenn die Ruder ins Wasser platzten, dazu die Alarmrufe der Amseln in den Bäumen und der Schwäne vom Inselchen her, auf das Flor aus Leibeskräften zuschwamm.
Er war schon fast an der Insel, als ihn ein Ruderhieb hart an der Schulter traf. Da stieß er einen Schrei aus, vor echtem Schmerz und mit hellsichtiger List, ließ sich auf den Grund des Teichs sinken, tief hinab in die entengrüne Grütze, umwatete die kleine Insel und kroch auf der rückwärtigen Seite leise hinauf.
Augenblicke lang lag er dort im Schilf, keuchend und verzweifelt bemüht, sich nicht durch lautes Atmen, durch Husten gar zu verraten. Die Insel mochte fünf Schritte im Kreis messen, in der Mitte erhob sich der struppige kleine Hügel, der ein wenig Deckung bot. Nicht nur die Hatz durch Hezilows Gesellen hatte er schon einmal erlebt, durchfuhr es Flor, auch den Sturz ins Wasser, das verzweifelte Tauchen in trüben Fluten; doch da war er erst wieder zu sich gekommen, als die beiden Büttel ihn geschüttelt und ins Baderhaus geschleift hatten. Und vorher? Wie war er dorthin gelangt, in den Fluss, den Markéta und die Ihren Moldau nannten? Undeutlich sah er einen Steinkrug vor sich, den eine schwarz behaarte Hand ihm reichte - Hezilow? Und dann sich selbst, wie er den Krug an die Lippen setzt und den Trunk gierig in seine Kehle gießt, um seinen brennenden Durst zu stillen. Und darauf - Schwärze, gar nichts mehr, Finsternis wie im Grab. Bis er sich auf einmal unter Wasser fand, in reißenden Fluten, wie im ärgsten Alptraum um sein Leben kämpfend.
Jener Trunk, wurde er ihm eingeflößt, damit er alles, was vorher war, vergaß? Während Flor noch die Nebelwelt seiner Erinnerung durchforschte, begannen um ihn herum die Schwäne zu fauchen, ihr schwarzes Gefieder zu blähen, mit ihren Schnäbeln gegen den Eindringling zu klappern, der tropfnass und nackt bis zum Gürtel auf ihrem Stückchen Erde lag. Und sich seinerseits den Kopf zermarterte, auf welches Erdenstück er gehören mochte, wenn er nicht tatsächlich aus einem Klumpen Dreck geschaffen worden war, von Hezilows Händen und Gnaden.
Drei der verstrüppten Gesellen blieben in den Booten, rings um die Insel verteilt, die beiden anderen ließen den Kiel in den Uferschilf schrammen und taumelten an Land. Da begann Flor zu schreien, so grell, so durchdringend, dass es überall in der Burg erschallte:
»Ké-kéta, hilf! - Hi-hilf, Ké-kéta, hilf!«
Und so immer weiter, unterbrochen nur vom Fauchen der Schwäne, vom Schnattern der Enten und von heiseren Flüchen der beiden Gesellen, die unschlüssige Blicke wechselten und dennoch näher und näher kamen.
Flor war aufgesprungen, dabei unablässig weiterschreiend. Der eine Lumpenkerl schnappte nach seinem Arm, der andere ließ sich blitzartig fallen, im Hernieder stürzen nach seinen Fußknöcheln haschend. Keuchend kollerten sie über den Boden, auf dem Federn, Schwanenkot und dürre Zweige verstreut lagen - dazwischen ein Dolch mit krummer, stark angerosteter Klinge, den Flor gedankenschnell packte, während er immer weiter schrie: »Ké-kéta, hilf! - Hihilf, Ké-kéta, hilf!«