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Anscheinend hatte der eine Lumpenkerl im Niederstürzen das Messer verloren; Flor jedenfalls nutzte den Moment der Verwirrung, als die Gesellen die Klinge in seiner Hand sahen, riss sich los und sprang neuerlich auf. Drohend schwang er die Waffe empor, dann senkte er sie, einer jähen Eingebung folgend, und drückte die Spitze auf seine linke Brust.

»Ma-markéta, hilf! - Zu-zurück, Kohlenkerl, sonst ... ! - Ké-kéta, hilf, Markéta!«

Unterdessen hatten seine Schreie tatsächlich eine Reihe gafflustiger oder mitleidiger Burgbewohner aufgeschreckt, darunter auch d’Alembert und die Badersmaid, nach der sich Flor immer noch die Seele aus dem Leib schrie: »Ma-markéta, hilf! - Weg, Kerl, sosonst .! - Ké-kéta, hilf, Markéta!«

29

Nachdem er ihr alles berichtet hatte, was ihm an diesem Morgen widerfahren war, auf Burg Krumau und im namenlosen Gutshaus seiner Erinnerung, wirkte Flor tief erschöpft und doch nahezu glücklich, zum ersten Mal, seit er gestern zu ihr ins Badehaus gebracht worden war. Stammelnd und mit der freien Hand fuchtelnd hatte er auf Markéta eingeredet, Schulter an Schulter neben ihr auf dem kleinen Hügel kauernd, argwöhnisch beäugt von den beiden Lumpengesellen und den ebenso finster gefiederten Schwänen, die allesamt an den Rand der Insel zurückgewichen waren, wo die Kähne im Uferschilf lagen.

Einige Schritte abseits stand Jan Mular, klein und dicklich zwischen seinem Boot und einem verlassenen Schwanennest, die Muskete im Anschlag. Abwechselnd richtete er seine Waffe auf die beiden Wirrbärte im Uferschilf und ihre drei Spießgesellen, die in den Nachen vor dem Eiland trieben. Mulars Miene verriet, dass er die Badershur und den »Apparat aus Metall und Rädern« liebend gern Hezilows Leuten ausgeliefert hätte, doch drüben am Rand des Teichs stand d’Alembert und beobachtete, die Augen gegen die Sonne beschirmend, was auf der Schwaneninsel geschah.

Ihm gegenüber, am östlichen Ufer des Schlossteichs, bemerkte Markéta auf einmal den Puppenmacher, umgeben von drei weiteren seiner bärtigen Gesellen. Für einen Moment der Verwirrung schien es ihr, als ob d’Alembert und Hezilow eine gottlose Schachpartie austrügen: mit dem See und der Allee als ihrem Spielfeld, den vier Gardisten und den fünf Lumpenkerlen als hellen und dunklen Spielfiguren - und wer wären, fragte sie sich, dann sie selbst und der arme Flor?

Der Nabellose war an ihrer Seite immer weiter hinabgerutscht, bis er endlich in ihrem Schoß zu liegen kam, den Dolch in der Linken, ein Lächeln um die Augen, deren Lider sich flatternd senkten. Überwältigt von Zärtlichkeit und Rührung sah Markéta auf ihn hinunter; solange ich bei dir bin, dachte sie wieder, soll dir nichts Arges geschehen, kleiner Flor.

In Gedanken ging sie noch einmal durch, was da förmlich aus ihm herausgebrochen war. Vieles, was sich ihrem Verstand nicht leicht erschließen wollte, hatten ihr Herz und ihre Seele ergänzt. Hezilow und seine Gesellen haben ihn entführt und in jener »finsteren Halle« gefangen gehalten, dachte sie, während d’Alembert den Gardisten mit seinem Stöckchen diskrete Zeichen machte; und in diesem Gewölbe haben sie einen boshaften Hokuspokus veranstaltet, mit dem Drachen unterm Dach und was wusste sie denn noch allem, um den armen Flor glauben zu machen, dass er im alchimistischen Labor erschaffen worden sei. Deshalb auch der Trunk, überlegte sie weiter, den Hezilow ihm eingeflößt hat, um Flors Gedächtnis auszulöschen, ehe der Puppenmacher dafür sorgte, dass Flor vor den Toren von Krumau aufgefunden wurde - just zwei Tage nachdem Don Julius in die Burg eingezogen war!

Markétas Gedanken wirbelten im Kreis. Zumindest erahnte sie nun die Umrisse eines so verwegenen wie teuflischen Plans, von Hezilow ausgeheckt, damit der Kaisersohn ihn für imstande hielt, lebendige Kreaturen zu erschaffen. Aber wenn sich alles so zugetragen hatte, dachte sie dann, wie war’s zu erklären, dass Flors magerer Bauch, der sich unter ihrem Blick in tiefem Schlaf hob und senkte, von so unnatürlich muldenloser Glätte war? Als Baderstochter hatte sie schon mancherlei Verwachsungen gesehen, dreibrüstige Frauen, Menschen mit Affenfell und einmal sogar ein zweieiniges Zwillingspaar, junge Frauen, die an den Schläfen miteinander verbunden waren. Aber einen Nabel musste doch jedes Geschöpf haben, das von einer Mutter geboren worden war.

Ihr Blick schweifte zu den Ufern des Schwanenteichs, wo sich der Maître und der Magister noch immer wie zwei Kriegsherren gegenüberstanden, in elegantem Weiß der eine, der andere lumpenhaft schwarz. Und mit jener sprunghaften Logik, zu der der menschliche Geist zuweilen auch diesseits der Träume neigt, dachte Markéta auf einmaclass="underline" Auch Mutter Bianca war ja eine leidenschaftliche Schachspielerin, im Gegensatz zu Vater Sigmund, der mit den »tumben Holzpuppen« nichts anzufangen wusste - aber was soll mir dieser Erinnerungsfetzen gerade jetzt?

»Hoch mit dir, Badershur!« Jan Mular trat neben sie, die Muskete im Anschlag. Mit der Stiefelspitze stieß er Flor das Messer aus der Hand. »Und der kalte Kerl hier auch!«

30

Die Mittagssonne stand schon hoch über Krumau, als d’Alembert durch den Nordflügel der oberen Burg eilte. Auch wenn die kaiserliche Majestät ihnen viel mehr Geld zugestanden hatte, als er selbst oder Katharina da Strada jemals zu hoffen wagten, war es doch von Anfang an zu wenig gewesen, in lächerlichem, ja beschämendem Grad zu wenig; aussichtslos, mit ein paar Dutzend Truhen voller Gold und Silber eine ausgeplünderte Herrschaft wie Burg Krumau wieder herzurichten. Entsprechend schäbig sah es beispielsweise hier oben im Dachgeschoss aus, die Tapeten hingen in Fetzen von den Wänden, und aus den Türstöcken rieselte Holzmehl.

Dabei hatten sie bei der Einrichtung von Burg Krumau wahrhaftig keine Mühen gescheut. Für d’Alembert war es ein weiterer Waffengang in seinem inständigen Kampf gegen die Hässlichkeit gewesen, seine persönliche Feindin seit jeher. Für die herrschaftlichen Räume hatte er Teppiche aus Venedig besorgt und Tischsilber aus Genua, wenn auch nicht aus der Silberschmiede von Sepossi, dem berühmtesten genovesischen Juwelier, dessen Preise das gesamte kaiserliche Handgeld auf einen Schlag verschlungen hätten. Die Gobelins für die unteren Etagen hatte Oberstkämmerer von Hasslach aus Amsterdam kommen lassen, ebenso die Goldledertapeten. Die Hässlichkeit beleidigt unsere Sinne, entwürdigt die Seele und demütigt unseren Geist, sagte sich d’Alembert, als Sterbliche sind wir alle der Hässlichkeit verfallen, in Kot und Fäulnis werden unsere Leiber sich zersetzen, aber bis dahin sollen Schönheit und Eleganz, Kunst und erlesener Glanz unser Leben regieren.

Die mürben Dielen knarrten unter seinen Füßen, weiter vorn in einer Dachkammer fiepten Ratten. O ihr Götter, dachte der Maître, wenn ich nur diesen Hezilow hinausdrängen könnte, aus der Burg, aus Julius’ Gesichts- und Gedankenkreis! Doch momentan blieb ihm nichts anderes übrig, als den schwarzen Widersacher zu dulden; aber keine Bange, sagte sich der Maître, er würde den Alchimisten einfach durch einen unerwarteten Zug in Schach halten.

Mit raschen Schritten näherte er sich der Rosenberg’schen Familiengalerie, die in die Dachkammern des Nordflügels eingepfercht war, doch seine Gedanken waren noch immer bei Hezilow. Heute früh, als der Russe ihm gegenübergestanden hatte, über den Teich hinweg zu ihm herüberfeixend, da hatte er für einen Augenblick gefürchtet, die Gegenwart des Grässlichen nicht länger zu ertragen. Am liebsten hätte er seinen Gardisten befohlen, Hezilow zu verhaften und in den Turmkerker zu werfen, aber eine solche Handlungsweise kam nicht ernstlich in Betracht. Ich werde ihn bändigen und unschädlich machen, auf meine Weise, wie schon so manche Bestie vor ihm, sagte sich d’Alembert; nach dem Vorbild von Petrusco Bandinello, dem legendären Milaneser Löwenbändiger, mit dem er vor fast zwei Jahrzehnten zusammengetroffen war.