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Das tote Hürchen kommt den beiden nur zu gelegen, dachte er mit einem Mal, und plötzlich wurde ihm kalt. Er kroch tiefer in seinen scharlachroten Umhang, ein Geschenk seiner Mutter Katharina, der kaiserlichen Mätresse. Seit Wochen lauern d’Alembert und die Mutter auf einen Vorwand, mich nach Krumau abzuschieben, dachte er - zu meinem Besten natürlich, was denn sonst! Wieder und wieder hatten sie auf ihn eingesäuselt: was für eine gewichtige Herrschaft dieses Krumau wär, was für eine Glanzleistung der beiden, dem Kaiser die Grafschaft abzuschmeicheln, und was für eine Gnade der väterlichen Majestät, mir die abgenagten Überreste der alten Rosenberger anzuvertrauen! Bis gestern hatte sich Julius geweigert, auch nur besuchsweise nach Krumau zu rumpeln, einen halben Kutschtag ab von Prag. Jetzt aber - jetzt hatten sie ihn dort, wo sie ihn anpflocken wollten: Julius Caesar Graf von Krumau, was für eine jämmerliche Farce! Wie können sie’s wagen, mich in den Wald zu verbannen, dachte er und spürte ein Brennen in der Kehle - mich, Rudolfs erstgeborenen Sohn?

Am liebsten hätte er ausgespuckt, in d’Alemberts mehlweiß gepudertes Antlitz mit den blitzenden Augen, dem ständig wie zum Spott verzogenen Tollkirschmund. Und doch werd ich niemals meine verborgensten und offenbarsten Hoffnungen begraben: Julius Caesar von Habsburg, Kaiser des Heiligen Römischen Reichs, oder zumindest, bei allen hussitischen Henkershuren, König von Böhmen, wenigstens das!

2

Um die Mittagsstunde passierten sie das Budweiser Tor und rollten in die Unterstadt von Krumau; niemand nahm von dem weißen Zweispänner mit den verhängten Fenstern Notiz. Man schrieb den 3. Mai 1607 A.D. einen Samstag. In den Gassen drängten sich Händler, Schaulustige und Käufer zu Fuß oder auf Pferdekarren, die zum Markt in der Oberstadt strebten. So kamen sie nur im Schritttempo vorwärts, aber d’Alembert machte keine Anstalten, ihnen den Weg freizukehren.

»Unter den obwaltenden Umständen«, erklärte er, »seid Ihr gut beraten, Excellence, inkognito einzuziehen.«

»Umstände, Maître?«

»Nun, mir kommt es beinahe so vor, als wärt Ihr schon gestern hier eingetroffen.« D’Alembert setzte sein berühmtes undurchdringliches Lächeln auf. »Bei Anbruch der Dunkelheit, wenn ich es mir recht überlege.«

»Aber wie oft soll ich’s noch beteuern«, fuhr Julius auf, »ich hab diesem Mariandl keinen Kratzer in den Balg gemacht, geschweige denn ...«

Der Maître hob sein Stöckchen. »Nie mehr diesen Namen, Euer Liebden, ich bitte Euch. Eine Person namens Mariandl habt Ihr in Eurem ganzen Leben nicht gesehen.«

Gemächlich schaukelten sie in die Oberstadt hinauf, eingekeilt zwischen Karren, Tier- und Menschenleibern. Wenn die Leute da draußen wüssten, wer hier in der Kutsche hockt, dachte Julius, wer weiß, ob sie uns nicht mit Flüchen und Üblerem überschütten würden. Der Maître hielt ihn immer noch für einen tumben Jüngling, der sich durch seine Schliche arglos lenken ließ. Aber er hatte schon mehr als einmal munkeln hören, dass die Leute von Krumau dem Kaiser grollten, weil der seiner Mätresse die Grafschaft in den Schoß geworfen habe als Spielwerk für ihren Bastardsohn. Jahrhundertelang hatten die mächtigen Rosenberger hier in Krumau geherrscht, der größten böhmischen Burg hinter Prag. Bis der Letzte ihres Geschlechtes, Graf Wilhelm, Vizekönig und Kanzler von Böhmen, im Herbst 1602 dahingerafft worden und die hoch verschuldete Herrschaft mitsamt allen Dörfern, Meilern, Untertanen in die Hände Ihrer Majestät gefallen war, des wunderlichen Weisen von Prag.

Aber ich spei drauf. Mein Platz ist bei Euch, allerherrlichster Herr, nicht hier draußen im Wald.

Der Marktplatz war ein Gebrodel aus Lachen und Wiehern, Rufen und Muhen, aus Grölen und Blöken, vermischt mit Gerüchen nach Bier und Pferdepisse, Schweiß und Kirschsaft, Schweinswurst und Kot. Durch einen Spalt im Vorhang spähend, erkannte Julius eine schwarze Pestsäule, die sich mit versteinerter Geilheit gen Himmel reckte, umgeben von einem Wirrwarr aus Marktständen, wimmelnden Ferkeln und Kindern, Bürgern in steifer Würde und Bauern in bunter Tracht. Der Kutscher ließ die Peitsche knallen, und schrittweise blieb das Durcheinander der Marktstände hinter ihnen zurück. In der Mittagssonne gleißte die Moldau wie ein riesiger Spiegelwurm, der selbst ihre Kutschkabine mit hellem Weiß erfüllte.

Da wurde Julius noch düsterer zumute - ah, er hasste sie aus tiefstem Herzen, die heuchlerische Maienheiterkeit. Und hatte es kaum gedacht, da blieben sie stehen, mit einem Ruck, der ihn fast von der Kutschbank warf. Ein Rumpeln und Holpern, als ob sie durch einen Erdwulst gefahren wären, jemand stieß plötzlich einen Schrei aus, der gleich schon in einem Gurgeln erstickte, die heisere Stimme eines alten Mannes. Es klang, als ob er aufgekrächzt und fast im selben Moment sich in hellem Schwall erbrochen hätte - Mariandls Sternengucker!, dachte Julius in jähem Erschrecken, aber es kann ja nicht sein. Ohne auf d’Alemberts Stöckchen zu achten, stieß er die Tür auf und rief, mit der Linken im Freien fuchtelnd: »Halt! Ich befehl’s.«

Dabei hielten sie ohnehin schon, und obwohl der Maître ihn zurückziehen wollte, beugte sich Julius mit dem Oberkörper aus der Tür heraus. Sie standen am Rand einer hölzernen Brücke, die offenbar ins Burgviertel hinüberführte. Sonnenstrahlen zitterten über der Moldau und ließen die Mauern und Dächer der ungeheuren Burgmasse über ihnen wie eine zweite Sonne erstrahlen.

Die Leute in der Gasse gafften zu ihm empor, ans Geländer gedrückt. »Don Julius«, hörte er, »der Bastardgraf«, aber das hatte er sich vielleicht nur eingebildet. Unmittelbar vor ihm stand, den Kopf im Nacken, ein fetter Mann in ausgeblichener Tracht. Neben ihm ein kleiner Knabe, die Augen weit aufgerissen, der Nasenrotz in der Sonne glitzernd, dann ein junges Weib, das ihm ungeniert in die Augen sah. Julius wollte sie eben genauer in den Blick fassen, da erklang ein Stöhnen. Unter dem Raunen der Leute zwängte er sich vollends aus der Kutsche und sprang auf die Straße hinaus.

Der Verletzte war tatsächlich ein alter Mann, wenngleich nicht annähernd so alt, wie Julius vermutet hatte, als der Schrei erklungen war. Von seinen grauen Haaren, dem spinnwebdünnen Bart abgesehen, hatte er keine Ähnlichkeit mit Mariandls Sternengucker, natürlich nicht. Er roch nach Fusel, als Julius sich über ihn beugte, und offenbar war er just auf die Gasse getorkelt, als ihre Kutsche vorüberfuhr. Eins der eisenbeschlagenen Räder musste zur Gänze über ihn hinweggegangen sein und hatte seinen Leib in Höhe des Gürtels nahezu zerteilt. Sein Blick war bereits gebrochen, seine Lippen theatralisch rot verfärbt.

Er ist tot, dachte Julius, dennoch richtete er sich auf und rief: »Holt einen Medikus, ich befehl’s.«

»Den braucht er nicht mehr«, sagte eine helle Stimme hinter ihm.

Schon bevor er sich umgewandt hatte, wusste Julius, dass es die Stimme der jungen Frau sein musste, die ihn eben so offen angesehen hatte, ohne Scheu oder gar Unterwürfigkeit.

»Wer sagt das«, fragte er dennoch, »und mit welcher Autorität?« Er drehte sich um, und da stand sie vor ihm, so dicht, dass er beinahe zurückgefahren wäre. Dabei sah sie keineswegs zum Entsetzen aus, im Gegenteiclass="underline"    eine hochgewachsene Gestalt, mädchenhaft und hochbrüstig, schlank und doch kraftvoll, als ob sie’s gewohnt wäre, unzimperlich zuzupacken. Eine rossbraune Mähne rahmte ihr offenes Gesicht, aus dem ihn grüne Augen aufmerksam ansahen, sogar mit einer Beimischung von Spott, wie ihm schien.

»Markéta Pichlerovâ, Tochter des Baders Sigmund Pichler«, sagte sie. »Und dieser dort braucht keinen Medikus mehr, Euer Exzellenz. Sein Name ist Melchior Kurusch. Gott im Himmel sei seiner Seele gnädig.«

»Amen«, antwortete er unwillkürlich und fasste mit seiner Rechten nach Markéta Pichlerovâs schlanker brauner Hand, die wie anklagend auf den Leichnam wies.