»Um ein guter Dompteur zu werden, müsst Ihr als Erstes die Bestien bändigen, die zuhauf in Eurer eigenen Seele hausen: die Hyänen der Selbstzweifel, die Alligatoren der Angst vor Schmerz und Scheitern, die Drachen der geheimen Todeswollust.« Einen ganzen Abend lang hatte Bandinello ihn damals mit seinen goldenen Weisheiten traktiert, und die Begegnung mit dem Bändiger hatte sein Leben von Grund auf verändert. Nicht lange darauf hatte d’Alemberts steiler Aufstieg begonnen, der bis heute Bewunderer wie Neider in Erstaunen versetzte: von Rudolf II. an den Kaiserhof zu Prag gerufen, wo er, selbst beinahe noch ein Jüngling, mit der Erziehung des damals dreijährigen Julius beauftragt worden war. Eine Aufgabe, die wahrhaftig einen Bestienbändiger erforderte, das hatte er bald schon erkannt, und auch die kaiserliche Majestät schien gespürt zu haben, dass ihr unglückseliger Sohn Julius frühzeitig einer unerbittlichen Persönlichkeit unterstellt werden musste und dass der junge Charles d’Alembert, seiner zierlichen Erscheinung zum Trotz, dieses herausragende Maß an Willenskraft besaß.
Aus Gründen, die dem Maître selbst nicht ganz klar - und noch weniger geheuer - waren, hatte er über die Begegnung mit Bandinello zeitlebens Stillschweigen bewahrt. Am Tag nach ihrem Zusammentreffen hatte der Bändiger ihm ein hirschledernes Etui mit zwölf spiegelblanken Wurfmessern überbringen lassen, an denen d’Alembert seither regelmäßig seine Geschicklichkeit schärfte. Und bis heute rief er sich, wann immer er auch nur das leiseste Rascheln jener Bestien in seinem Innern vernahm, augenblicklich die Maximen des Berühmten ins Gedächtnis: »Ein guter Dompteur unterwirft jede Bestie seinem Willen, und es gibt nur gute Bändiger, jedenfalls unter den Lebenden.«
Auch dieses Mal bewährte sich die Reflexion, Charles spürte, wie Unruhe und Unbehagen in seinem Innern die Köpfe einzogen. Er lenkte seine Aufmerksamkeit den Gemälden zu; schließlich war er eines bestimmten Bildes wegen hier hochgestiegen, in die staubgeschwängerte Dachetage, wo Hunderte Rosenberg’scher Familiengemälde in engen Gängen und stickigen Zimmern hingen.
Einige Minuten darauf stand er vor dem Ölgemälde, dessen Abbild er offenbar in einem Hinterzimmer seiner Erinnerung bewahrt hatte. Einen großartigeren Ort hatte es auch sicher nicht verdient, dachte der Maître, indem er näher herantrat, um das Bildnis schärfer in den Blick zu fassen.
Angemessenerweise hatte es auch Wilhelm in einen unscheinbaren Winkel dieser Sammlung hängen lassen, die ohnehin nur minderrangige Bildwerke umfasste: Ahnenporträts, bei denen allein guter Wille die Farben angerührt und den Pinsel geführt hatte, dazu allerlei ölige Frömmeleien, mit schielenden Heiligen und pausbäckigen Engelsputten, die durch einen fettig goldenen Himmel segelten. Das Bild aber, das Charles nun angelegentlich betrachtete, zeigte keine Heilige und keinen Engel, auch keine Angehörige des Hauses Rosenberg, zumindest nicht nach weltlichem Gesetz. Die junge Frau auf dem Gemälde sah mit angespannter Miene auf ein Schachfeld hinab, auf dem sich der schwarze und der weiße König in geringer Distanz gegenüberstanden, beide nahezu entblößt von ihren Armeen. Sie hatte ein hübsches Gesicht mit braunen, lebhaften Augen, das von rossbraunen Locken umkräuselt wurde, und auch ihre schlanke Gestalt, soweit der Maler sie wiedergegeben hatte, ließ erahnen, dass die Weibsperson selbst wohlgeborene Herren zu betören vermochte.
Nun, jedenfalls weiß ich jetzt, an wen Madame mich erinnert, sagte sich Charles, der vor vielen Monaten ein einziges Mal hier oben gewesen war; auf sein Gedächtnis konnte er sich ebenso verlassen wie auf die Stoß- und Sprungkraft seines Leibes, den er seit dreißig Jahren regelmäßig auf dem Fechtboden stählte. D’Alembert führte seine Augen bis auf einige Zoll an das Bild heran und entzifferte die Jahreszahl im unteren rechten Eck des Gemäldes: 1587; dann wandte er sich gleichmütig ab.
31
Wieder schloss Flor die Augen und versuchte zu vergessen, um sich zu erinnern - zu vergessen, dass er auf dem lachsfarbenen Sofa im Frauenzimmer von Burg Krumau lag, stattdessen sich endlich zu erinnern, woher er kam und wer er war. Was nur war ihm widerfahren? Und wo lag jenes Haus, freundlich und hell, mit dem lieblichen Park, in dem er vor Hezilows Häschern geflohen war?
Er spürte Markétas Blicke auf sich, zärtlich und erwartungsvoll. Sie saß neben ihm im Sessel, schweigend, da sie glauben musste, dass er wieder schlief. Dabei war er vielleicht niemals wacher gewesen; verzweifelt versuchte er sich in jenen Park zu versetzen, und auf einmal war er wahrhaftig wieder dort.
Dämmerung - ein Morgen vor vielen Jahren wohl, denn auch sich selbst sah er wieder vor sich, wie er über jene Wiese lief: ein Kind noch, verängstigt und allenfalls zehn Jahre alt. Der Anblick des Kleinen rührte Flor fast zu Tränen, und das zärtliche Gefühl bewies doch, dass er endlich auf der rechten Spur war - oder etwa nicht? Dieser Knabe dort bin ich, dachte er, vor acht oder zehn Jahren, ich, ich, niemand sonst.
Der Junge trug nur ein paar Stofffetzen am mageren Körper. Hinter Bäumen, im Unterholz Deckung suchend, schlich er durch den morgengrauen Park. Im Laufen sah er über die Schulter zurück, sodass Flor mit seinen Augen nach hinten spähen konnte, und da erkannte er auch wieder die Lumpengesellen, die ihn, verteilt über die breite Wiese, mit taumelnden Schritten verfolgten. Aber zu welchem Zweck? Versuchten sie tatsächlich, ihn einzufangen, aus dem Park zu verschleppen, hinter dessen Ästen schon die hellen Gutsmauern sichtbar wurden?
Es musste das Anwesen seiner Eltern sein, das Haus, in dem er aufgewachsen war, zumindest hatte Flor das bisher geglaubt. Doch auf einmal verspürte er Zweifel. Sie jagten ihn ja nicht, dachte er, sie trotteten nur hinter ihm her, als wollten sie ihn nicht fangen, sondern im Gegenteil auf das Haus zutreiben!
Aber weshalb um Himmels willen sollten sie das tun?
In den letzten Stunden waren verschiedene Erinnerungen in ihm wach geworden - er kommt in einem hellen Zimmer zu sich, im Bett liegend, neben einem alten Weib, das im Schlaf seine Hand hält; er eilt in einer herrschaftlichen Halle auf einen grauhaarigen Herrn zu und ruft Vater! Vater!, während der edel Gewandete ihm mit mattem Lächeln entgegensieht; er kniet an einem Grab, das mit Efeu überwachsen ist, und darin liegt die Mutter, vor langen Jahren verstorben ...
Bestürzende, kummervolle Erinnerungen! Wie sehr hatte Flor sich gleichwohl gefreut - und mit ihm Markéta -, da seine Erinnerung sich zu öffnen, die Leere in seinem Innern sich mit Vergangenheit zu füllen schien. Nun aber war ihm, als ob diesen Erinnerungen, die ihm auf einmal so bereitwillig zuströmten, keineswegs zu trauen sei. Als ob sie nicht ganz wirklich wären, dachte Flor, gekünstelt oder gefälscht.
Und wenn alles genau anders herum war?, schoss es ihm durch den Sinn: lügenhaft erdacht nicht seine Erschaffung im Labor, sondern sein Leben draußen, seine Kinderjahre im Park, das Muttergrab, der Vater im Gutshaus?
Eine Weile grübelte er noch darüber nach, aber der Gedanke verstörte ihn so sehr, dass es ihn schließlich drängte, in die Gegenwart zurückzukehren. Er schlug die Augen auf, und neben ihm saß Markéta und lächelte ihn an.
»Ta-tausend Bilder in mir, Markéta«, sagte Flor. »Von Mutter und Vater, La-lachen und Singen, vom Spazieren unter herbstbunten Bäumen, tausend Bilder und dahinter - nichts. Wenn ich aber die Hahalle in Gedanken nur ganz leicht anrühr ...«, fröstelnd zog Flor das Leinenhemd um sich, das Lisetta für ihn besorgt hatte, ein muffig riechendes Gewand, das auf der Brust mit einem gewaltigen Wappen verziert war, ». den alten Drach’, die schwarze Nacht, Ma-markéta - dann spür ich ein Entsetzen, einen Schmerz, so arg, als wenn man sich an einer frischen Wunde stößt .«