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Unverwandt lächelte sie ihn an. »Nur ruhig, lieber Flor. Deine Erinnerung wird zurückkehren, warte nur. So wie deine Sprache, schau doch - du stotterst ja kaum mehr, Flor!«

Eingehüllt in ihr Lächeln wie in eine warme, weiche Decke, schloss er abermals die Augen und kehrte in die Nebelwelt seiner Erinnerung zurück.

32

»Vierspännige Kutschen, Herr Obersthofmeister«, verkündete Vladislav Kollek, die Hacken zusammenschlagend, »alle fünf bis unters Dach beladen.«

D’Alembert zückte sein weißes Seidentuch und tupfte sich über die Stirn. Kaum war er in sein Appartement zurückgekehrt, um sich ein wenig von den Strapazen dieses Vormittags zu erholen, da hatte sein Sekretär Pavel auch schon den Gardisten gemeldet. »Und ihr habt sie eingelassen?«, fragte er, auf seine blendend weiße Hirschledercouch sinkend.

»Die Kutscher hatten Passierscheine, ausgestellt von Graf Julius.«

»Wer hält mit dir Wache am Tor?«

»Mikesch Slatava, Herr Obersthofmeister.«

Das hat mir gerade noch gefehlt, dachte d’Alembert und setzte ein heiteres Lächeln auf. »Ausgezeichnet, Gardist Kollek«, sagte er, »du hast genauso gehandelt, wie ich es angeordnet hatte. Und jetzt kehre an deinen Platz zurück - nur eines noch.«

Der Soldat, sonnenblond und kaum weniger schmächtig als seine Schwester, die Zofe Lisetta, wendete auf den Fersen, eine Hand schon an der Tür.

»Erwähne vor niemandem, dass du mir Bericht erstattet hast -auch nicht gegenüber deinem Kameraden Slatava.«

Für einen Moment blitzte Argwohn in den Augen des Gardisten auf, dann wurde seine Miene starr und er salutierte. »Wie Herr Obersthofmeister befehlen!«

Die Tür hatte sich kaum hinter dem Wächter geschlossen, da sprang d’Alembert wieder auf und verließ seinen Salon durch eine Tapetentür, die direkt ins Dienertreppenhaus führte. Ungesehen eilte er nach unten und erreichte eben den dritten Burghof, als die erste der schwarzen Lastkutschen unter gewaltigem Rumpeln im Tor zum Alchimistengewölbe verschwand.

Die Sonne war bereits untergegangen, Fackeln an den kunstvoll bemalten Wänden erhellten die Szenerie. Die Erde unter d’Alemberts Füßen erzitterte, während die Kutsche tiefer und tiefer in das riesige Gewölbe rollte. Mitten auf dem Hof, hoch und klobig wie ein Frachtschiff, wartete schon der nächste Wagen, die Fenster verhängt. Dahinter stauten sich weitere der gewaltigen Gefährte, deren stumpfes Schwarz das Licht der Fackeln aufzusaugen schien.

Die Pferde der zweiten Kutsche scheuten vor dem schwarzen Schlund, bis der Kutscher die Peitsche tanzen ließ. D’Alembert wartete noch einige Augenblicke, dann trat er aus seiner Mauernische und eilte hinter dem donnernden Wagen in die Unterwelt hinab. Er selbst hätte nicht sagen können, was er hier unten überhaupt suchte; an einer erneuten Konfrontation mit dem Puppenmacher, und dann noch allein und auf dessen Terrain, war ihm gewiss nicht gelegen. Doch irgendetwas zog ihn ins Gewölbe hinab, und er hatte sich vor langen Jahren angewöhnt, auf leitende Zeichen aus seinem Innern zu achten, zumindest in gefahrvollen Situationen, zu denen ihre derzeitige Lage zweifellos zählte.

» Vollkommene Ruhe in Krumau, oder der kaiserliche Zorn wird uns alle verderben.« Während d’Alembert in Gedanken die Warnung der Stradovä repetierte, eilte er die abschüssige Fahrstraße entlang, die nach der ersten Biegung von Fackeln hell erleuchtet wurde. Hinter sich hörte er schon die nächste Kutsche herandröhnen, als er endlich den großen Saal erreichte.

Wie unverkennbar das Herz des Drachen schon wieder zu schlagen beginnt, dachte er, indem er sich hinter einer Säule verbarg. Fackeln brannten auch hier an den Wänden, Lampen und Kerzen leuchteten von Tischen und Schemeln, und doch lag über allem eine lastende Schwärze. Unter dem Bild des grünen Leu, der die Sonne verschlingt, glühte ein riesiger Ofen, der alchimistische Athanor. Metallene Tiegel und Glasbehälter in den wunderlichsten Formen waren rings um den Herd auf Tischen und Regalen aufgestellt. Allerlei Gesellen machten sich im Saal zu schaffen: Die einen entluden die Kutsche, die in dem titanischen Saal fast zwergenhaft wirkte, andere standen über Tische gebeugt, zermörserten Substanzen oder rührten Tinkturen an, wieder andere traten einen gewaltigen Blasebalg, obwohl der Ofen ohnehin schon glühte.

Einige der Lumpengestalten erkannte Charles wieder, heute früh hatten sie droben den Nabellosen gejagt. Er erschrak, als er sah, wie viele der schwarzen Gesellen Hezilow schon um sich geschart hatte. Wenigstens ein Dutzend zählte er, und womöglich ließ der Russe mit den Kutschen nicht nur Fässer und Kisten, sondern auch weitere Gehilfen herbeischaffen.

Eine schwarze Kiste wurde nun entladen, von der ungefähren Form eines Kindersargs. Erdbrocken kollerten hinab, als zwei Männer den Kasten auf einem Tisch absetzten. Einer nahm ein Brecheisen zur Hand und keilte es unter den Deckel. Charles hörte die Geräusche splitternden Holzes und stöhnender Nägel und kniff die Augen zusammen, um aus einer Entfernung von wenigstens zehn Metern zu erkennen, was der fatale Kasten enthielt.

Im Spalt zwischen Kiste und Deckel kam endlich das spitznasige Gesicht einer Ratte zum Vorschein. Fiepend zwängte das Tier seinen plumpen Leib durch die Ritze, sprang vom Tisch und rannte im Zickzack durch den Saal. Charles war der Ratte unwillkürlich mit den Augen gefolgt, und dann zuckte er fürchterlich zusammen: Eine kleine braune Hand legte sich auf seinen Arm.

»Maître - s’il vous plaît.« Die Hand gehörte Lenka, und ihre Augen waren so voller Pein und Panik, dass er sie einen Moment lang nur anstarren konnte. Scharfer Modergestank waberte durch die Luft, anscheinend der aufgehebelten Kiste entquollen. Der Maître musste gegen Brechreiz ankämpfen, während er auf Lenka hinabsah. Die kleine Syrakuserin trug nur ein paar bunte Fetzen am Leib, obwohl es hier im Gewölbe empfindlich kühl war.

»Helena - was machst du hier unten?« Glücklicherweise hatte er sich so weit in der Gewalt, dass er seine Stimme zu einem Flüstern dämpfte, und noch während er sprach, zog er sie in den Schatten hinter der Säule.

Stumm beobachteten sie beide, wie die nächste Kutsche in den Saal einrollte, während die erste, mittlerweile gänzlich entladen, im Hintergrund des gewaltigen Raums gewendet wurde und im Schritttempo wieder nach draußen fuhr. Das Stampfen der Hufe und das Dröhnen der Räder hallten von den Gewölbewänden wider. Auf Boden und Tischen, für einen Moment frei sichtbar, stand ein halbes Dutzend schwarzer, sargartiger Kästen, wie Apfelsteigen übereinander gestapelt, dann schob sich die Kutsche davor, und der ärgste Lärm verebbte.

Charles beugte sich zu Lenka hinab. Das Mädchen umklammerte seinen Arm nun mit beiden Händen, und durch sein Gewand hindurch spürte er, wie sehr sie zitterte. Wo ist dein Bruder?, wollte er sie fragen, da schaute sie auf zu ihm, und er sah die schwärzlich roten Tupfer in ihren Mundwinkeln, getrocknetes Blut. »Was ist passiert?«, fragte er und fuhr abermals zusammen, als anstelle Lenkas eine pfeifende Stimme erwiderte: »Heb er sich schläjnigst hinweg aus Hezilows Helle, Maître Weißkäs, sonst lass ich ihn geheerig braten auf Athanor!«

Charles richtete sich auf, seine Linke auf Lenkas Schulter. »Wenn Ihr dem Mädchen etwas angetan habt, Hezilow, sorge ich dafür, dass Ihr noch heute im Turm landet.« Seine Stimme klang ruhig, obwohl ihm das Herz bis in die Schläfen hinauf dröhnte.

»Tumber Hanswurst säjd Ihr, d’Alembert!« Der Puppenmacher trat so dicht vor ihn, dass Lenka zwischen ihnen beiden fast zerdrückt wurde; die Säule in seinem Rücken hinderte den Maître, auch nur einen Zoll zurückzuweichen. »Hezilow in Kerker werfen - wegen finf Träpflein Blut?« Pfeifend lachte er auf und trat einen Schritt zurück, spie auf seine Hand und wischte Lenka breit übers Gesicht, dass sie mit dem Kopf gegen Charles’ Brust prallte.