»An Euren Händen«, sagte d’Alembert, »kleben sehr viel mehr als nur ein paar Tropfen Blut. Habt Ihr nicht auch diese Toten auf dem Gewissen - da drüben in den Kindersärgen?« Mit seinem Stöckchen deutete er auf die kreuz und quer gestapelten Kästen, die hinter der soeben abfahrenden Kutsche zum Vorschein kamen.
»Kindersärge?« Hezilows weibische Lippen schnappten im Bartgestrüpp auf und zu. »Seid Ihr noch dutzendmal dimmer, als Hezilow dachte, d’Alembert! Wollt Ihr wissen, was sich wirklich in diesen Kisten ist?« Mit zwei taumelnden Sprüngen war er bei dem schwarzen Kasten, den seine Gesellen vorhin geöffnet hatten, stieß den Deckel vollends beiseite und winkte d’Alembert zu sich. »Nun kommt schon, ieberzeugt Euch selbst, Maître Weichkäs!«
Zögernd trat d’Alembert aus dem Schatten der Säule, Lenka mit sich ziehend. Am liebsten wäre er aus dem von Hitze, Gestank und dröhnendem Lärm erfüllten Gewölbe geflohen, aber dies war gewiss nicht der rechte Moment, um törichter Sehnsucht die Zügel schießen zu lassen. So trat er neben den Puppenmacher, der mit seinem Stöckchen über dem Kasten herumfuchtelte.
»Zitterlinge, Pilzkulturen!«, kreischte der Russe. »Seht sie Euch nur an, sind sich das nicht Pflänzlein nach Eurem Geschmack?«
Widerstrebend beugte sich d’Alembert über den Kasten, der bis zum Rand mit Erde gefüllt war. Aus dem fettig schwarzen Mutterboden sprossen die sonderbarsten Pilze, die er jemals gesehen hatte. Tatsächlich ähnelten sie menschlichen Gliedmaßen, nur dass die mageren Fingerchen und Zehlein durchscheinend waren wie Gallert.
Hezilow bückte sich hinab und stieß keuchend die Atemluft aus. Da überlief die Zitterlinge ein Beben, und sie wogten in ihrem Beet auf und nieder, als ob dort unter der Erde wahrhaftig jemand eingegraben wäre und sich verzweifelt freizuscharren versuchte.
»Nehmt das Hierchen nur mit, Maître«, sagte der Russe, und die schwarzen Augen über Warzen und Bartgestrüpp funkelten vor Häme, »und sein Briederchen auch, wenn’s noch hier drunten rumscharwenzelt. Bald erschafft sich Hezilow eigene Pippchen - sechs, sechzig, sechshundertsechzig, ganz wie Graf Julius befiehlt!«
33
Das Gartenhaus, mit Eiskristallen gesprenkelt, auf einmal sah er’s wieder vor sich: die hohen Fenster mit den ziegelroten Rahmen, dahinter Zitronenbäume in tönernen Kübeln, Palmen und Zypressen in einem Wirrwarr von Harken und Schaufeln, von schadhaften Töpfen, eingesponnenen Mumienpflanzen, die sich wie verfrorene Kutschreisende an die Scheiben drängen.
Es konnte grauenvoll kalt sein dort draußen, dachte Flor, auf dem lachsfarbenen Sofa im Frauengemach liegend; aber auch innerhalb der hellen Mauern, die von außen so anheimelnd aussahen, hatte er immer wieder furchtbar gefroren.
Neben dem Gewächshaus, rechterhand angesetzt, der gemauerte Seitentrakt, in dem er mit den beiden Alten haust, Steiner und Steinerin. Steiner, der unter seinem schlammbraunen Umhang die seltsamsten Dinge hervorzaubern kann (Zwirnstücke, Nägel, Messer, was du gerade brauchst), ein apfelwangiger, ganz und gar glatzköpfiger Alter mit trüben Augen, die nur noch wenig sehen, und doch grinst er Flor gleich entgegen, zahnlos, ein heiterer Totenschädel, wenn der ihn im Gewächshaus besucht oder, ganz selten mal, draußen im Park.
Wie sonderbar, dass ihm das alles auf einmal wieder einfiel, als ob eine lange verrammelte Falltür in seinem Innern aufgesprungen wär. Auch mit geschlossenen Augen sah Flor, wie Markéta wieder neben ihm saß und seinen Dämmerschlaf bewachte.
Nach draußen geht er so selten wie möglich, viel lieber bleibt er drinnen bei der Steinerin, in der kleinen Gärtnerwohnung, die zu jeder Tageszeit von Dämmerlicht erfüllt ist, von Kräutergerüchen, fettigem Suppendampf. So hochgewachsen der alte Steiner, ein knochendürrer Riese, so klein ist sein Weiblein. Kugelrund und winzig, der fast kahle Kopf immer unterm schwarzen Tuch verborgen, sodass nur das Hutzelfrätzlein mit den wasserhellen Augen hervorlugt, über einem formlosen Kittel von nebelhafter Farbe, den sie niemals ablegt, auch im heißesten Sommer nicht: Da watet sie mitsamt Kopftuch und Kittel in den Parkteich, nur den Saum ein wenig raffend und schneckenbleiche Schenkel entblößend.
Auch wenn ihm die Gerüche in der Gärtnerküche zuwider sind, das ewige Kräutergehäcksel und Suppengebrodel, hält er sich doch fast immer bei der Steinerin auf, in Griffnähe ihres Schürzenbändels. Als kleiner Junge hockt er bei ihr auf dem Dielenboden und baut aus Sand und Steinen wunderliche Welten, mit vier, sieben und noch mit elf Jahren. Und sitzt mit dreizehn, sechzehn, siebzehn immer noch bei der Alten, auf einem Küchenschemel oder auf der Ofenbank, ordnet Steinbröckchen und Sandhäuflein, ganz nah bei der Steinerin, ohne die er nicht lange ruhig bleiben kann. Wenn sie ihn allein lässt, wenn die Steinerin einmal nicht bei ihm und auch Steiner nicht in seiner Nähe ist, dann wird es schwarz um ihn, so schnell, als wenn die Sonne erloschen wär. Und dann wird ihm kalt, so totenkalt, dass seine Zähne klappern, dass Lippen und Fingerspitzen taub werden. Dann macht er die Augen ganz fest zu und traut sich nicht mehr, um sich zu sehen. Denn er weiß ja, dass alles sich wieder verwandelt, grauenvoll umgestülpt hat, dass er nicht mehr in der Gärtnerküche, nicht bei der Steinerin ist, sondern in jene dunkle Halle zurückgeworfen, umschlossen von Stille, von steinerner Schwärze, und irgendwo hoch über ihm schwebt wieder der riesige Vogel der Nacht. Und dann schreit er »Steinerin! Stei-steine-riiiin!«, schreit und schreit, dass es ihm fast die Brust zerreißt, dass die Scheiben nebenan im Glashaus klirren und drüben im Herrenhaus alles an die Fenster stürzt, die Mägde und Diener und selbst der Gutsherr -Veit von der Mühlen, dein Vater, Rolfie, wie die Steinerin ihm immer wieder versichert hat, mit glänzenden Augen und zischender Aussprache, ihres einzigen Zahnes wegen, der wie ein Elfendolch aus ihrem Oberkiefer ragt.
In Flors Bewusstsein drang dumpf das Rumpeln schwer beladener Kutschen, die drunten durchs dunkle Durchhaus zum zweiten Burghof fuhren, das Dröhnen der eisenbeschlagenen Räder vermengt mit groben Flüchen und hellem Pferdewiehern. Doch all das nahm er bloß am Rande wahr, während vor seinem inneren Auge unablässig Bilder vorüberzogen.
Manchmal nimmt die Steinerin ihn mit nach oben, an ihrer Hand läuft er über die gesandeten Wege, zwischen Eichen und Rotbuchen den kleinen Hügel hinauf bis zum Herrenhaus. Dort begrüßen ihn alle sehr freundlich, die Diener nennen ihn »junger Herr«, wenn auch mit einem Lächeln, und wenn der Gutsherr nicht auf Reisen ist, kommt auch er meist herbei, um die Steinerin und ihren Schützling willkommen zu heißen. Herr Veit ist ein grauhaariger, schon älterer Mann von unscheinbarem Äußeren, mit schlaffen Wangen und kalten Augen. Wenn er aus der Bibliothek oder von der Terrasse zu ihnen herauskommt, bemüht er sich immer, den »lieben Rolfie« mit besonderer Wärme anzulächeln, aber das Lächeln zieht nur seine Mundwinkel ein wenig empor, während die blauen Augen unbeteiligt bleiben.
Flor sah das väterliche Lächeln vor sich, die Augen so kalt wie zwei Winterpfützen, und noch in der Erinnerung begann er wieder zu frösteln.
Während Herr Veit ihn umarmt oder bei den Schultern fasst und mit väterlicher Derbheit rüttelt, lässt er selbst die Hand der Steinerin nicht los. Auch mit fünfzehn Jahren oder mehr geht er nur an ihrer Hand aus dem Gärtnerhaus, ganz selten, dass er sich mal allein aus der Tür traut, in die Orangerie hinüber oder gar in die wilden Weiten des Parks.
Etwas an ihm, in ihm ist auf schreckliche Weise anders als bei den Menschen, zwischen denen er aufgewachsen ist. Das hat er immer schon gefühlt, aber eines Tages, mit zwölf oder dreizehn Jahren, ist es ihm plötzlich klar geworden, binnen eines einzigen Augenblicks - ich bin anders, anders, nie, nie werd ich sein wie sie. Er hätte nicht sagen können, wodurch und in welcher Weise anders, damals so wenig wie heute, aber seither weiß er, mit untrüglicher Gewissheit, dass er nicht wie der Steiner oder die Steinerin ist, nicht wie Herr Veit oder die Mägde und Diener, die ihn mit feinem Lächeln als »jungen Herrn« begrüßen.