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Sie war eine »ganz unglückliche Person«, versichert ihm die Steinerin stets bereitwillig, wenn er drum bittet, von seiner Mutter zu hören. »Hilda war schön wie wilde Rosen und gefährlich wie Vogelbeeren.« Wo sich die Liaison zwischen ihr und Herrn Veit abgespielt hat, ob sie zusammen hier auf dem Gut oder an einem anderen Ort gelebt haben, ob Hilda seine Mätresse gewesen ist oder vielleicht nur eine Buhlin für ein paar Sommertage, all das bleibt in den gefühlvollen Schilderungen der Steinerin ganz und gar unbestimmt. »Oj, wie innig sie sich liebten«, nuschelt sie über ihren Kräutern, »kann so was gut ausgehen, Bübli? Nein, es war eine heilige Liebe, zu gut für diese Welt.«

Jedenfalls sei Hilda eines Tages bei einem Kutschunfall ums Leben gekommen, erklärt ihm die Steinerin unter Tränen, und da habe der mildherzige Gutsherr ihn, seinen Sohn, zu sich genommen und in ihre gärtnerische Obhut gegeben. »Da warst du ein Kräutli von vier Jahren«, versichert sie ihm, während er auf dem Schemel am Küchentisch hockt und Sand und Steine zu Kreisen oder Rechtecken ordnet, seine liebste Beschäftigung, so weit er zurückdenken kann, »und du selbst hast ja nur durch ein Wunder überlebt - ist schon besser so, dass du dich an den furchtbaren Unfall nicht erinnerst.«

Nein, daran erinnert er sich tatsächlich nicht: weder an die Kutsche, in der er und Mutter Hilda übers Land reisten, noch an den Felshang, den sie hinunterstürzten, als der Kutscher bei Nacht und Sturm vom Weg abkam. Auch an das Spital, in dem die Ärzte um sein Leben rangen, fehlt ihm jede Erinnerung, an die wundersamen Essenzen, mit denen sie ihm Kopf und Bauch bestrichen, um seine Wunden zu heilen. Er war aus der Kutsche geschleudert und auf einer Felsnadel aufgespießt worden, jedenfalls laut der Steinerin; »der Fels hat deinen Nabel durchbohrt, Jungchen«, so die Alte, in ihre Schürze schnüffelnd, »die Ärzte haben das Loch mit ihrer Wunderpaste wieder geschlossen, und deshalb lebst du noch, hast aber keinen Nabel mehr. Besser, du lässt es keinen sehen - sonst sagen die Leute noch, dass der Teufel dein Vater wär!«

Von alledem weiß er einzig durch die tränenreichen Schilderungen der Steinerin, er selbst erinnert sich nur an die schwarze Halle, den Drachenvogel, der über ihm in der Finsternis schwebt. Aber auch das ist ja kein Erinnern, es ist die Essenz des Entsetzens, aus Dunkelheit, Stille, ein paar winzigen Lauten destilliert - Fiepen wie von jungen Tieren, Rauschen wie von großen Flügeln.

Alles andere kommt ihm dagegen unwirklich vor, gekünstelt, erlogen, auch wenn die Steinerin es ihm noch so lebhaft ausmalt und sogar wenn er selbst sich dran erinnert, wie an die vierzehn oder mehr Jahre, die er bei den alten Gärtnern verbracht hat, der weitaus größte Teil seines bisherigen Lebens.

Die meiste Zeit habe er mit den Steinen verbracht, sagte Flor nun zu Markéta, indem er sich auf dem lachsfarbenen Sofa aufrichtete; mit Sand und Steinen, die er zu geometrischen Gestalten geordnet habe, gleichförmigen Wellen oder Wällen; die Menschen habe er gefürchtet, doch bei den Steinen habe er Frieden und Trost gefunden.

»Wa-weil ich selbst aus Dreck erschaffen bin!« Er sah sie an und schaute zur gleichen Zeit in die schwarze Halle hinein, die sein ganzes Inneres auszufüllen schien. Ich bin verloren, dachte Flor, niemand kann mich retten, auch Markéta nicht.

34

Lautlos stieg der moldaublaue Samtvorhang empor und gab den Blick auf die Bühne frei, die noch ganz im Finstern lag. D’Alembert hatte den Rosenberg’schen Wappensaal kurzerhand zum Theater umgewidmet, und bei dieser ersten Aufführung unter Don Julius’ Ägide waren alle Plätze in den Logen und unten im Parkett bis auf den letzten Fleck gefüllt.

Eben noch hatte alles munter durcheinander geschwatzt, doch nun kehrte mit einem Schlag erwartungsvolle Stille ein. Im Saal wurde es dunkel, auf der Bühne dagegen flammten Lichter auf, mit ihrem scharfen Schein jeden Schatten verjagend.

Markéta hielt den Atem an und überließ Flor, der zu ihrer Rechten in der Loge saß, bereitwillig ihre Hand. Der Bühnenraum schien aus rohen Steinen gemauert; inmitten des Gewölbes, an einem Gestell aus hölzernen Stangen, schaukelte ein großer Topf. Dampf stieg in Schwaden aus dem Bottich empor, darunter züngelten Flammen, täuschend echt in Gelb und Rot auf Pappmache gemalt.

Von links trat, mit eigentümlich taumelnden Schritten, eine schmale Gestalt ins Bild, ganz in Schwarz gewandet. Einen Moment lang kehrte sie ihr Gesicht dem Publikum zu, das die Scharade mit heiterem Gelächter quittierte. Wohl jeder im Saal erkannte, wer sich hinter dem aufgeklebten Bart verbarg und welche geheimnisvolle Person er darstellen sollte. Und Markéta fühlte sich einmal mehr als tumbe Dorfgans: Offenbar war sie gestern in eine Theaterprobe geplatzt und hatte sich zur Närrin gemacht, als sie Nicodemus, den Krumauer Knaben, zur Rede gestellt und Fabrio sogar scheltend an den Haaren gezogen hatte.

Der Magier auf der Bühne trat vor den Bottich, wobei er dem Publikum seinen Rücken zuwandte, und hob mit feierlicher Gebärde beide Arme. Langsam drehte er sich um, und der ganze Saal erbebte vor Gelächter und dröhnendem Trampeln. Ein schwarzes Stäblein ragte aus dem aufklaffenden Umhang hervor, just in der Leibesmitte des feixenden Zauberers. Feine Fäden, im Bühnenlicht schimmernd, verbanden den Stab mit den Handgelenken des Magiers: Wedelte er mit den Händen, so schnellte das Stöcklein vor seinen Lenden empor, senkte er die Arme, so fiel auch das Hölzchen matt hinab.

»Mit diesem zauberhaften Stabe«, sprach der Magister in dumpfem Ton, »erschaffe ich die nabellose Kreatur - für Seine Exzellenz, meinen allerherrlichsten Herrn!« Er wandte sich zurück zum Bottich und vollführte einige wedelnde Gebärden, worauf von unterhalb des Bühnenraums ein gewaltiger Paukenschlag ertönte.

Markéta zuckte zusammen und drückte Flors Hand. Auf dem Kirchmarkt drunten in Krumau hatte sie alljährlich Hanswurstiaden gesehen oder auch Seiltänzer, die zwischen Kirch- und Rathausturm durch die Luft spazierten, aber nie zuvor ein Bühnenstück wie dieses hier.

Unter drängenden Pauken- und Trommelschlägen begann der Bottich über dem gemalten Feuer zu schaukeln. Eine Hand stieg aus dem Gefäß empor und umklammerte den Topfrand, gefolgt von einer zweiten, die fast noch bleicher als die erste schien. Während der Bottich immer wilder hin und her schwang, rappelte sich im Topf eine schmale Gestalt auf und stand endlich zitternd inmitten der Schwaden, die Augen weit aufgerissen, die goldenen Locken himmelwärts gesträubt. Ein Raunen ging durchs Publikum, und ehe man sich halbwegs von der Überraschung erholt hatte, machte der Magier eine anlockende Gebärde und zog den frevlerisch Erschaffenen mit schierer Zauberkraft aus dem Bottich heraus. Zitternd lag die Kreatur vor ihm am Boden, nabellos nackt und dampfend nass, und der Zauberer griff unter seinen Umhang, brachte eine Schlinge zum Vorschein und warf sie dem Geschaffenen um den Hals.

Das jämmerliche Winseln der Kreatur auf der Bühne und die Klagelaute Flors gingen gleichermaßen im donnernden Applaus unter, als der Vorhang zum ersten Mal fiel.

Lakaien schwärmten nun überall im Publikum aus und zündeten Kerzen an. Benommen beugte sich Markéta über die Brüstung ihrer Loge und sah einem Diener hinterher, der über seinem Kopf ein Silbertablett voll brennender Kerzen balancierte.

Sie wandte sich nach links, da traf sie ein Blick, der ihren Atem stocken, ihr Herz mit einem Mal wie rasend pochen ließ. »Julius!« Sie hauchte seinen Namen und fuhr zurück in ihre Loge wie in ein Schneckenhaus. Wie hatte sie auch nur einen Augenblick vergessen können, dass er nebenan in der Fürstenloge saß, bloß durch eine dünne, mit Seide bespannte Wand von ihr getrennt? Behutsam beugte sie sich noch einmal vor, bereit, ihren Kopf mit den hoch aufgetürmten Haaren -einem Kunstwerk, an dem Bronja und Lisetta zwei Stunden lang gewerkelt hatten - sofort wieder einzuziehen. Der Platz zur Rechten des jungen Grafen war leer; an seiner linken Seite saß der Maître im weißen Wams, wie immer ganz vorn auf der Sesselkante kauernd, als könnte jederzeit ein Feuer ausbrechen, dem er persönlich sich entgegenwerfen müsste.