Letzten Endes, dachte Markéta, konnte sie sich durchaus als Nachfahrin des alten Grafengeschlechts ansehen, so wie Don Julius die neue Herrschaft von Krumau verkörperte. Der Gedanke berauschte sie, wieder sah sie sich am Arm des jungen Grafen durch eine Gasse prachtvoll gekleideter Personen schreiten, dieses Mal zum Traualtar der St.-Veit-Kirche auf Burg Krumau, während die Glocken droben im Hungerturm ohrenbetäubend läuteten.
Durch ein solches Spalier war sie vor vierzehn Tagen wahrhaftig geschritten - oder eher gewankt, an Julius’ Arm, während seine Burgobern, Künstler und Schranzen links und rechts die Köpfe neigten. Sie hatte den Theatersaal als Baderstochter betreten und war auf der Bühne als Hurenpuppe verspottet worden - doch wer den Saal an jenem Abend verließ, hoch erhobenen Hauptes, wenn auch mit weichen Knien, war die adlige Geliebte des Kaisersohns, Markéta da Ludanice. Noch auf der Treppe, unter einem halben Hundert Augenpaaren, hatte Julius sich seitlich zu ihr gebeugt und ihr ins Ohr gewispert: »Euch hat mir das Schicksal geschickt, Madame - habt Ihr eine Ahnung, wie es ist, immer allein zu stehen gegen eine ganze hinterfotzige Armee?«
Verwirrt hatte sie den Kopf geschüttelt, und Julius hatte sie angelacht und dann eilends zu seinem Appartement geführt, wo die gräfliche Gefolgschaft auf der Türschwelle zurückblieb und ihnen derbe Ermunterungen in einem halben Dutzend Sprachen hinterrief; Sprachen, die Markéta nicht beherrschen musste, um den saftigen Sinn der Rufe zu verstehen.
Was dann geschehen war, würde sie in ihrem ganzen Leben nicht mehr vergessen. Die Tür fiel hinter ihnen zu, und Julius sah sie so voller Leidenschaft an, dass es in ihrem Bauch wie von tausend Waldameisen kribbelte. Ein Glück nur, dass er gleich einen Arm um sie legte und sie an sich zog, so zärtlich und stark, dass sie sich willig an seine Brust sinken ließ. Er beugte sich hinab, blies eine Haarsträhne von ihrem Ohr und flüsterte ihr mit heißem Atem etwas zu, von brodelnden Mondsäften und alchymischer Wollust. Dann hob er sie ohne weiteres empor und trug sie durch den gräflichen Salon, hinüber ins Schlafgemach, wo das riesige Himmelbett stand.
»Vergönnt mir die Gunst, Eure alchymische Unterwelt zu erkunden, Madame«, sprach Julius mit heiserer Stimme, und seine Augen funkelten im Kerzenlicht. »Lasst mich Euch mit tönender Glut erfüllen und Euren Lippen selige Klagen sonder Zahl entlocken.« Damit legte er sie sanft auf die Bettstatt, sein Gesicht so nah über dem ihren, dass ihr Atem sich vermischte, als Markéta ihre Arme um seinen Nacken schlang und den Geliebten mit einem Seufzer in sich aufnahm ...
Sie fuhr aus ihren Erinnerungen auf, als die Kutsche auf dem Burghof zum Stehen kam, neben einem Schutthaufen, aus dem Brennnesseln und Brombeerranken sprossen. Der Hügel mochte vor Jahrzehnten oder Jahrhunderten hier aufgeschüttet worden sein, zur Linken des Hauptportals und mit einer Sorgfalt, die edlerer Ziele würdig gewesen wäre.
Weitere Kutschen rollten auf den Hof, Koffer und Truhen wurden abgeladen, die Pferde abgeschirrt. Julius sprang aus der Karosse, ehe sein Kammerdiener Robert herbeigeeilt war. Markéta sah ihm hinterher, doch in diesem Moment hatte Julius keinen Blick für sie. Schon war er von Herren in grüner Jagdkluft umringt, die Gewehre und Armbrüste geschultert trugen. Einer von ihnen, ein kräftiger Mann mit puterrotem Kopf, hielt mit beiden Händen ein ganzes Bündel lederner Schnüre umklammert, an denen zwei Dutzend Hunde hechelnd und belfernd zogen.
Jetzt erst bemerkte Markéta, dass d’Alembert auf ihrer Seite der Kutsche wartete. Als sie ihn ansah, neigte er den Kopf und reichte ihr seine Hand. »Madame«, sagte er nur, mit einem Lächeln, in dem sich Zuneigung und Hinterlist die Waage hielten.
»Maître«, gab sie zurück und ließ sich so geziert aus der Kalesche helfen, als ob sie nicht vor kurzem noch im Badehaus auf ihren Knien gelegen und die Bodenkacheln abgerieben hätte.
Bei diesem Gedanken spürte Markéta einen heftigen Stich: Seit Wochen schob sie den überfälligen Besuch bei Vater Sigmund vor sich her, aus Groll auf den Bader, der ihr die Wahrheit - ihre Wahrheit - ein Leben lang vorenthalten hatte, aber mehr noch aus Angst vor dieser Wahrheit selbst.
36
Ruhelos lief er durch die Rosenberg’sche Ruine, vom Burghof über die enge Treppe hinauf in den Wehrturm, dessen Mauerwerk rußgeschwärzt war, und von dort fluchtartig weiter, durch die Überreste des Wehrgangs hinüber in den Rittersaal. Alles in diesem zerfallenen Kastell vermittelte d’Alembert den Eindruck, gescheitert zu sein.
Der Rauchabzug in der Küche verweigerte seine Dienste, Qualmschwaden zogen durchs Kuchelgewölbe, das von Breuner mit seinem dröhnenden Husten zusätzlich verpestete. In den herrschaftlichen Schlafgemächern - wo Julius und Markéta in zwei benachbarten Zimmern nächtigen sollten, durch eine Tapetentür getrennt oder verbunden, je nachdem - hatte Robert ein Rascheln in den Wänden gemeldet, von Ratten oder Ärgerem. Die Jagdhunde, in einer Scheune im Wirtschaftshof notdürftig einquartiert, heulten und winselten ohne Unterlass, sodass in der Dienerschaft schon getuschelt wurde: Bestimmt gehe hier ein Rittergespenst um! Um die Unruhe unter Lakaien und Edelleuten noch zu steigern, war vom Dach der Remise, in der sie die offenen Kutschen unterstellen wollten, eine Lawine aus Ziegeln und morschen Balken niedergegangen und hatte zwei Diener und einen Edelknaben unter Trümmern begraben. Zum Glück war niemand ernstlich verletzt worden, doch die Blessierten wankten seither im Kastell herum und wiesen mit Märtyrermienen ihre Beulen und Schürfwunden vor. Nur Fabrio scharwenzelte aufreizend heiter durch das rußige Tohuwabohu, im Unterschied zu Lenka, die sich gleich beim Aussteigen einen Fuß verknickst hatte und seither ein noch grämlicheres Frätzchen zog.
Ein Glück nur, dachte der Maître, dass Julius zumindest bisher von den Plänen seiner Verlobten nichts zu ahnen schien. Dabei jagten seit acht Tagen Eilkuriere zwischen dem Hradschin und Burg Krumau hin und her: Johanna von Waldstein sei außer sich, so die mütterliche Mätresse, über die »schamlose Kabale der pseudo-adligen Badershur«. Das fromme Freifräulein verlange, die Rivalin augenblicklich zu entfernen - »aus seinem Bett, aus der Burg, aus unserem geliebten Böhmen, so weit wie möglich fort von Don Julius!« Aber das, werte Johanna, kommt zumindest derzeit nicht in Betracht, dachte d’Alembert. Wenn Don Julius und Madame Markéta ahnten, dass die Waldstein sogar angedroht hatte, in eigener Person nach Krumau zu reisen, »um sich im Gemäuer seines gräflichen Herzens aufs Neue zu installieren«, dann würde das verliebte Pärchen womöglich beschließen, überhaupt nicht mehr nach Krumau zurückzukehren. Und dabei war diese Ahnengruft der reinste Schweinestall, sagte sich Charles; warum nur hatte Julius darauf bestanden, Hals über Kopf zu dieser Jagdpartie aufzubrechen, und seinen bislang so heiß geliebten Magister in den Krumauer Gewölben sich selbst überlassen? Dies alles war so rätselhaft und beunruhigend, dass d’Alembert beinahe dankbar war für die vielfältigen Herausforderungen, vor die ihn der miserable Zustand der Rosenberger Trutze stellte. Derlei Probleme ließen sich immerhin beheben, wenn auch eher notdürftig als solide oder gar elegant, und vor allem halfen sie mit, die Bestien der Vorahnung in seinem Innern einzuschläfern.
Am frühen Nachmittag waren sie eingetroffen, bis Sonnenuntergang lief d’Alembert umher, schimpfte und lobte, ordnete an und munterte auf. Er befahl, Ratten zu erschlagen und Fensterlöcher zu verrammeln, ließ die Hunde in die Remise und die Kutschen in die Scheune schaffen. Ein magerer Kuchelknabe musste aufs Dach hinauf und sich durch den Kamin hinunterwinden, bis er auf den Pfropfen stieß, der den Abzug verstopfte: ein ganzes Rudel Fledermäuse, zum ledrigen Klumpen mumifiziert. Auch dieser Fund war wenig geeignet, die Stimmung in der Dienerschaft zu heben, und sogar er selbst, Maître d’Alembert, konnte sich eines beklommenen Gefühls nicht erwehren, als er den Kuchelknaben aus dem Ofen kriechen sah, schwarz wie ein Satansbraten und den schaurigen Pfropf in den Armen.