Anfangs sah sich Markéta noch aufmerksam um, während sie im Trab dem schmalen Weg hoch über der Moldau folgten, durch Gärten und Felder dem Wald entgegen, der wie eine schwarzgrüne Riesenwand vor ihnen aufragte. Aber bald wurde sie wieder schläfrig - kein Wunder, dachte sie, nach den Aufregungen der letzten Nacht. Sie warf sich die Decke über, die neben ihr auf der Bank bereitlag, aß langsam einen der rotbackigen Äpfel, die sich zusammen mit Würsten und Weißbrot, Fasan und Tokaier in der Provianttasche fanden, und sah an Slatava vorbei in die nebelverhangene Ebene, bis sich vor ihren Augen wirkliche Sinnesbilder mit Gedanken und Träumen vermischten.
Die sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts waren ein wüstes Zeitalter, jedenfalls nach den Worten d’Alemberts, der ihr die Verhältnisse anschaulich geschildert hatte. Und ganz besonders galt dies wohl für das Fürstentum UngarnSiebenbürgen, in dem Markétas Mutter Bianca aufwuchs, im Gutsflecken Prescov nahe Hermannstadt, als einzige Tochter der Eheleute da Ludanice. Seit dem Fall der ungarischen Hauptstadt Ofen stand auch Siebenbürgen unter osmanischer Oberhoheit, immer wieder kam es zu Aufständen, die der Sultan von Konstantinopel blutig niederschlagen ließ. Katholiken bekämpften überdies Reformierte, Protestanten stritten mit Orthodoxen, und alle zusammen hassten die Mohammedaner. 1562, vier Jahre bevor Bianca zur Welt kam, erhoben sich die Sklezer gegen die osmanischen Usurpatoren und wurden von den Krummsäbeln in langwierigem Kampf niedergemacht. Die Pest brach aus, erneute, noch verzweifeltere Aufstände folgten; Dörfer, Städte, ganze Landstriche wurden verwüstet, so auch der Sprengel Prescov, der im Jahr 1570 lichterloh brannte.
Während dieser Wirren kamen anscheinend Anselm wie auch Margareta da Ludanice ums Leben. Jedenfalls fand man in den Trümmern des Gutshauses zwei verkohlte Leichen, die für ihre sterblichen Überreste angesehen und am 11. Oktober 1570 auf dem verheerten Kirchhof zu Prescov notdürftig bestattet wurden. Die kleine Bianca aber wuchs fortan in der Obhut ihrer Großtante Ludovica auf, in einem Häuschen am Rand des Sprengels Prescov.
»Nicht, dass es heute in Siebenbürgen sehr viel friedlicher zuginge«, hatte d’Alembert nach kurzem Sinnen noch hinzugefügt. »Von dem Tohuwabohu, das Stephan Bocskay dort angerichtet hat, wird sich das Land nicht so rasch erholen, auch wenn der streit- und ruhmsüchtige Fürst so einsichtig war, nach nur dreijähriger Tyrannei das Zeitliche zu segnen.«
Seit dem Tod ihrer Eltern und der Verwüstung des Familienguts war Bianca da Ludanice eine bettelarme Waise, angewiesen auf die Gnade der alten Tante, die ihrerseits in dürftigen Verhältnissen lebte.
Die einzige Trumpfkarte, die dem Mädchen verblieben war, ihr siebenbürgischer Adelsrang, war lange Zeit nicht das Pergament wert, das die Echtheit ihrer Ansprüche verbürgen sollte, bis Peter Vok von Rosenberg, der jüngere Bruder Wilhelms, im Sommer 1580 Katharina da Ludanice ehelichte, eine Kusine Biancas aus der mährischen Hauptlinie der Ludanices.
Damals zählte Bianca vierzehn Jahre, ein Jahr mehr als die so glanzvoll aufgestiegene Kusine. Nicht einmal d’Alembert hatte herausbringen können, wie lange es von Katharinas Hochzeit an gedauert hatte, bis die frohe Botschaft nach Prescov gedrungen war, zur Großtante Ludovica, die unterdessen nahezu taub war, und zu ihrem Mündel Bianca, das nach den Aufzeichnungen des Dorfpfarrers, Hochwürden Dragovic, »anstellig, gewissenhaft und von Ehrsucht geplagt« war.
Im Jahr 1586 jedenfalls verstarb Ludovica im biblischen Alter von dreiundneunzig Jahren, und im Sommer darauf tauchte auf Burg Krumau eine hübsche und aufgeweckte, wenn auch ärmlich gekleidete junge Frau auf, die sich anhand verschiedener Dokumente als Bianca von Ludanice auswies. Und Wilhelm von Rosenberg, der großmächtige Burgherr, seit jeher weiblichem Liebreiz zugeneigt und großzügig bis zur blinden Verschwendung - Wilhelm nahm die siebenbürgische Kusine seiner Schwägerin Katharina mit offenen Armen auf. Etwas mehr als ein halbes Jahr verbrachte sie auf Burg Krumau, ohne sich in irgendeiner Weise hervorzutun, ausgenommen ihr brillantes Schachspiel. »Dann vermählte sich Eure Frau Mutter Hals über Kopf mit dem Bader Sigmund Pichler und wurde nie mehr hier oben in den Burghöfen gesehen. Wie eine Spielfigur, die über den Rand des Schachtischs kippt und zu Boden fällt, wenn Ihr mir den nicht ganz ernst gemeinten Vergleich nachseht, Madame.«
»Hört Ihr mich, Madame?«
Die Frage verwirrte Markéta, erst nach einigen Momenten der Besinnung wurde ihr klar, dass nicht d’Alembert sie angesprochen hatte.
»Natürlich hör ich dich, Mik ... - Gardist Slatava.«
Ihre Kutsche stand am Rand einer weiten Lichtung, die von Eichenwald umschlossen war. In der Ferne erklangen Jagdhörner, das Hecheln der Bluthunde und die abgehackten Rufe der Knechte, die den Jägern das Wild zutrieben.
»Zur Mittagsstunde«, sagte Mikesch Slatava, indem er vom Kutschbock sprang und den dampfenden Rappen abschirrte, »wird sich die Jagdgesellschaft hier auf der Lichtung einfinden, auch die Beute soll hier aufgestapelt werden, Madame.«
Seine Worte beschworen aufgehäufte Tierkadaver, blutüberströmt und gehäutet, vor Markétas geistigem Auge herauf. Sie war Julius dankbar, dass er zumindest nicht angeordnet hatte, sie mitten ins Getümmel zu führen. Zugleich spürte sie zum ersten Mal seit Wochen wieder, dass er manchmal noch immer ein Fremder für sie war, jedenfalls jener Teil von ihm, der sich an Blut und Tod ergötzte.
Er ist ein Mann, dachte sie dann, lebt nicht in allen Männern dieser dunkle Drang zu überwältigen, abzuschlachten und zu töten? Nein, nicht in allen, antwortete sie sich selbst, denn gleich schon kamen ihr drei wandelnde Gegenbilder in den Sinn: Charles d’Alembert, Flor und - Vater Sigmund. Keiner dieser drei könnte sich an der Jagd berauschen, dessen war sie sicher, auch wenn der Maître notgedrungen an der heutigen Jagdpartie teilnahm. Aber keiner von ihnen ist auch wie er, dachte sie dann wieder, so leidenschaftlich, kühn und stark.
Markétas Knie fühlten sich ein wenig weich an, als sie sich endlich von der Kutschbank erhob, und diesmal zögerte sie nur einen Augenblick, dann nahm sie Mikeschs dargebotenen Arm und ließ sich aus der Karosse helfen.
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Trompetentöne kündigten die Rückkehr der Jagdgesellschaft an, die überschwänglichen Klänge schienen die Üppigkeit der Beute zu preisen.
Markéta hatte sich im Gras niedergelassen, unter den Ästen eines riesigen Eichbaums, ob vor zwei Stunden, drei oder mehr, sie hätte es kaum sagen können. Fürsorglich hatte der Gardist ihre Decke und die Provianttasche aus der Kalesche herbeigeholt, sie hatte das Webtuch ausgebreitet, sich seitlich darauf gelegt, den Kopf in einen Arm gestützt. Und war gleich wieder in Grübeleien versunken, Gedanken an Mutter Bianca und den Bader, von dem sie so viele Jahre lang geglaubt hatte, dass er ihr Vater sei. Dabei war Sigmund Pichler höchstwahrscheinlich nur der Bürgersmann gewesen, der Bianca Schutz und Dach und vielleicht auch ein wenig Trost geboten hatte, nachdem das Schifflein ihrer ehrsüchtigen Träume gekentert war.
Markétas heitere Stimmung war verflogen. Ein ums andere Mal musste sie sich Tränen aus den Augen wischen, verstohlen, damit der Gardist nichts bemerkte. Slatava hockte auf der anderen Seite der Lichtung, nahe dem Kutschpferd, das mit methodischer Gier den Waldsaum abgraste. Auch die ersten Jäger und Treiber, die nun von Westen her auf die Lichtung kamen, sah sie ein wenig verschwommen, obwohl sie gleich wieder Tränen aus den Augen blinzelte. Die Pferde waren mit Hirschhälften und blutigen Rehkadavern beladen, gehäutete Hasenkörper quollen aus den Satteltaschen der Reiter und aus den Netzen der Treiber, die sich hinter den Pferden auf die Lichtung schleppten, unter ihre Lasten gebeugt.