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Als der Wind einen Schwall süßlichen Blutgeruchs zu ihr herübertrieb, richtete sich Markéta zum Sitzen auf und drehte sich seitlich weg. Aus den Augenwinkeln sah sie eben noch, wie die ersten Jäger ihre Beutestücke vom Pferd gleiten ließen und auf einem Felsstück am Rand der Lichtung aufzustapeln begannen, dann senkte sie die Lider und kehrte in Gedanken zu Mutter Bianca zurück.

Alles sprach dafür, dass Bianca damals, im Sommer 1587 oder wenig später, die Geliebte eines wohlgeborenen Herrn aus Wilhelms Gefolge geworden war. Höchstwahrscheinlich hatte sogar ein Freier von höherem Adel um ihre Gunst gerungen, denn anders ließ sich kaum erklären, was Bianca wenig später widerfuhr: Anfang 1588 vermählt mit dem Kleinhäusler Sigmund Pichler, wobei das Kirchbuch von Krumau als Mädchennamen der Braut nicht etwa »von Ludanice« anführte, sondern den Herkunftsnamen ihrer Mutter Margareta, überdies gekürzt um das Adelsprädikat: »Bianca Voscaja, geboren am 6. Junius 1566 A.D. in Prescov, Fürstentum UngarnSiebenbürgen«.

Aber Geburtstag und -ort stimmten überein, die Identität der beiden Biancas stand also außer Zweifel - umso mehr, als das Gemälde aus der Rosenberger Privatgalerie niemand anderen als Bianca Pichlerovâ zeigte, vielmehr Bianca da Ludanice, die sich im Januar 1588 so überraschend in die Gemahlin des Baders Pichler verwandelt hatte.

Derlei »Transformationen«, wie d’Alembert es ausdrückte, erfolgten »nicht ganz selten, stets diskret und fast immer aufgrund der nämlichen Konstellation: wenn die Buhlin gesegneten Leibes ist und der Standesunterschied eine Vermählung mit dem Kindserzeuger verbietet, dieser jedoch Ehrenmann genug ist, die Dame angemessen abzufinden - mit Ehegemahl und Mitgift, in bürgerlichem oder kleinadligem Rahmen, je nachdem«.

Markéta hatte eine Weile gebraucht, um die gedrechselten Worte des Maître zu enträtseln, aber mittlerweile war sie sicher, dass sie, auf ihren Fall bezogen, nur einen Schluss erlaubten:

Mutter Bianca, damals immerhin eine Edelfrau klangvollen Namens, musste eine Liebschaft mit einem Krumauer Herrn von hohem oder sogar höchstem Adel eingegangen sein. Zum hundertsten Mal wendete Markéta den Gedanken hin und her und kam doch zum selben Ende wie immer: Wäre nämlich Biancas Buhle von ähnlichem Blutsrang wie sie gewesen, ein Freiherr oder selbst ein Baron, so hätte er schwerlich eine andere Wahl und noch weniger einen guten Grund gehabt, die Vermählung mit der Dame zu verweigern, immerhin einer angeheirateten Verwandten des Grafen von Rosenberg. Hatte Mutter Bianca sich dagegen mit einem Herrn von weit höherem Stand eingelassen, so durfte sie keinesfalls hoffen, dass der wohlgeborene Galan sich um der minderblütigen Buhlin willen ins Verderben stürzte, »und speziell in diesen Fällen«, so wiederum der Maître, »kommt das Instrument der Transformation sehr zupass.«

Alles in allem, dachte Markéta, hieß das doch wohl, dass ihr wahrer Vater eine fürstliche Persönlichkeit sein musste, die im Winter 1587 auf Burg Krumau lebte, möglicherweise sogar Graf Wilhelm höchstselbst. Sie hatte es kaum gedacht, als ein heftiger Schwindel sie befiel; rasch öffnete sie die Augen und sah zu den Jägern hinüber.

Immer noch kamen weitere Männer in tannengrüner Kluft aus dem Wald hervor, zu Fuß oder zu Pferde, sie alle beladen mit blutigen Beutestücken, die sie auf den Kadaverhaufen warfen. Auch etliche Künstler in papageienbunten Gewändern waren zur Lichtung herausgekommen, Markéta erkannte die zitronengelben Schuhe Giacomo da Biondos, der eben seine Staffelei aufstellte. Der Kadaverstapel mochte mittlerweile anderthalb Meter in der Höhe messen, Dutzende starrer Augen glotzten aus dem Fleischberg zu ihr herüber, und Markéta sah den äugenden Beutehaufen einen Moment lang benommen an, ehe es ihr gelang, den Blick wieder abzuwenden.

Gestern Nacht, dachte sie, bei seinem überraschenden Besuch in ihrem Bett, hatte Julius angedeutet, dass es für Biancas Absturz von der Burg ins Baderhaus möglicherweise noch eine andere, weit weniger ehrenhafte Erklärung gab. Natürlich hatte auch sie selbst schon daran gedacht, aber die Möglichkeit, dass Bianca der Hochstapelei überführt und deshalb nach kurzer Zeit aus der Burg gewiesen worden war, schien ihr keine ernstere Überlegung wert. Die Dokumente, die ihre Herkunft bezeugten, waren untadelig gewesen, das hatte d’Alembert ihr mehrfach versichert, und daran würde sie sich halten.

Ich muss endlich mit ihm sprechen, dachte Markéta wieder, mit Vater Sigmund - auch wenn sie jetzt schon wusste, dass sie gerade die Fragen, die ihr am ärgsten auf der Seele brannten, unter seinem bekümmerten Blick kaum hervorwürgen könnte. Und dennoch, sie war es dem Bader und sich selber schuldig, sagte sie sich, während ihr neuerlich Tränen in die Augen traten; armer Vater Sigmund, von Bianca verlassen und nun auch von mir.

Aber hatte der Bader sie nicht regelrecht in die Burg hinauf abgeschoben, bei der erstbesten Gelegenheit?, dachte sie dann wieder, während Julius drüben auf die Lichtung sprengte, durch Fanfare und Hurra der Jäger und Treiber begrüßt. War es ihr nicht schon damals im Thronsaal sonderbar erschienen, überlegte sie weiter, wie geflissentlich der Bader ihre Mutter hervorgestrichen hatte, ohne auch nur anzudeuten, dass er selbst der Gemahl und Vater sei?

Nein, so eigentümlich hätte der Bader sich gewiss nicht gebärdet, wenn er Biancas Geheimnis nicht seit langen Jahren kannte, sagte sich Markéta, während Julius von seinem schwarzweiß gescheckten Hengst sprang und mit strahlendem Lächeln auf sie zulief. Sein Gewand war mit Blut besprenkelt, auch seine Hände, selbst auf Stirn und Wangen klebte Blut. Ein Schauder überlief Markéta, sie sprang auf und hielt den Atem an, als er vor sie trat, so nahe, dass der Geruch seines Körpers sie umhüllte; ein überwältigendes Duftgemenge aus Jägerschweiß und Fichtenharz, Unterholz und Blut.

»Ihr werdet staunen, Madame!« Er rief es mit heller Stimme, bübische Freude in den Augen, dann beugte er sich vor, nahm ihre Hand in seine blutbeschmierte Rechte und hauchte einen Kuss darauf. »Begleitet mich und seht selbst, wie sehr unsere kühnsten Erwartungen übertroffen wurden!« Und er zog sie mit sich, über die weite, sonnenbeschienene Lichtung zu den Jägern hinüber, die im Schatten der Eichen lagerten, auf Baumstämmen, Felsbrocken, im Gras.

Der Maître beaufsichtigte nahebei eine Schar von Kuchelmaiden, die Leintücher im Gras ausbreiteten und Teller, Zinnbecher und Messer aufdeckten. Einige Dutzend Schritte abseits waren die Hunde angekettet worden, vor einer Mulde voll blutiger Eingeweide, um die sie kläffend und zähnefletschend kämpften.

Markéta klammerte sich fester an Julius’ Arm. »Ihr seid ein Kind, Monsieur - im Körper eines Mannes«, setzte sie, sehr zu ihrer eigenen Verwirrung, hinzu.

Julius grinste sie von der Seite an. »Und wer gefällt Euch besser, Markéta - der Knabe oder der Mann?«

»Nun - alle beide, wenn auch selten zur gleichen Zeit«, gab sie zurück, entschlossen, die Hitze zu ignorieren, die ihr wieder in die Wangen stieg.

»Und Ihr seid Euch jederzeit sicher, welchen Knaben Ihr gerade meint?«

Keine fünf Schritte trennten sie mehr von dem Haufen aufgestapelter Tierkadaver, auf denen Hunderte von Schmeißfliegen umherkrauchten. Der Geruch nach Blut und rohem Fleisch, nach Eingeweide und Kot war betäubend, und obwohl Markéta schon mehr als einmal Karnickel gehäutet oder Schweinehälften zerschnitten hatte, spürte sie nun, wie Übelkeit in ihr aufstieg.

Unvermittelt blieb sie stehen, sodass auch Julius innehalten musste. »Ich verstehe nicht, Monsieur?«

»Nun, Eure Bemerkung eben, von dem Knaben - bezog sie sich nicht ein wenig auch auf Flor?«

»Aber er ist ein Kind!«, stieß sie hervor. Ihre Wangen brannten wie Feuer.

»Im Körper eines Burschen?« Er zog sie weiter, auf den Beutehaufen zu, aus dem Rehköpfe, Schweineschnauzen, großäugig starrende Hasen hingen, die Löffelohren erdwärts baumelnd und mit Schlamm oder Blut verschmiert.