»Wie kann ich Euch behilflich sein, Madame?« Die Stimme des bulligen Mannes dröhnte, der gewaltige Rundschädel, auf dem kein einziges Haar spross, besaß die Farbe von Klatschmohn. »Ihr seid hier im gräflichen Spital!«
Sein Ton und seine Miene verrieten, dass er sie am liebsten wieder vor die Tür gesetzt hätte, nur die Vorsicht mahnte ihn offenbar, sich zu bezähmen. Es war derselbe Mann, dachte Markéta, der damals droben im Audienzsaal ausgerufen hatte, Flor sei »ein Kunstmensch aus Rädern und Metall«.
»Und Ihr seid der gräfliche Medikus?«, fragte sie und beobachtete aus den Augenwinkeln, wie der Mann neben ihm eine schmierige schwarze Mütze in den Händen drehte. Täkie?, überlegte sie, Baschek? Oder wie hatte sich der Dritte der Lumpenkerle genannt: Oblion? Der Gestank jedenfalls schien hauptsächlich von diesem schwarzbärtigen Gesellen auszugehen, die Betten dagegen, zehn an jeder Seite des Ganges, waren allesamt leer.
»Allerdings, Madame. Kasimir von Rosert, gräflicher Medikus. Bitte untertänigst um Nachsicht, ich bin sehr beschäftigt, Madame.«
So höflich seine Worte, so abweisend klang noch immer seine Stimme, deren Dröhnen von den Wänden widerhallte.
»Gestattet mir nur eine Frage, Monsieur. Euer Besucher wird Euch gewiss für einen Augenblick entschuldigen. So ist es doch, Herr - Täkie?« Mit einem Lächeln wandte sie sich dem zweiten Mann zu.
Der bleckte die Zähne im schwarzen Bart. »Unçerek«, er deutete sogar eine Verbeugung an, »Täkie ist unten im Labor, Madame. Wir bereiten die Goldprobe vor, müsst Ihr wissen«, fuhr er in vertraulichem Ton fort und rückte näher an Markéta heran. »Und da wurd ich ausgeschickt, den Herrn Medikus zu fragen, ob er Magister Hezilow mit ein wenig ungelöschtem Kalk aushelfen kann.« Wieder bleckte er sein Gebiss, dabei mit einem Zischen ein- und ausatmend, sodass sich Speichelbläschen zwischen schadhaften Zähnen blähten.
Markéta atmete seinen fauligen Geruch ein, doch sie zwang sich, keinen Zoll vor dem Lumpenkerl zurückzuweichen. Er lügt, dachte sie, jedes einzelne Wort aus seinem Mund ist eine stinkende Lüge.
»Monsieur Unçerek also«, sagte sie stattdessen, sich aufs Neue dem gräflichen Heiler zuwendend. »Ich will Euch wie gesagt nicht lange behelligen. Verratet mir nur eines, werter Herr Medikus: Wie geht es dem jungen Nico? Wo liegt er? Kann ich ihn ...«
»Das sind bereits drei Fragen, Madame«, fiel ihr von Rosert polternd ins Wort. »Aber um die Sache abzukürzen, denn ich bin wahrhaftig in großer Eile: Der Bursche wurde gestern von Herrn Täkie und dem Gardisten Mular hier bei mir abgeliefert. Ich war so umsichtig, die Wunde auszubrennen und den recht unzulänglichen Verband, den man ihm angelegt hatte, zu erneuern; gleich anschließend ist der Knabe davongehumpelt, ohne ein Dankes- oder auch nur Abschiedswort. So, Madame, nun wisst Ihr, wie es um Euren wackeren Schützling steht.« Grimmig sah er auf sie herab, die Augen zusammengekniffen, der Schädel so rot, als ob gleich das Blut unter der Haut hervorspritzen wollte. »Und wer zahlt mir nun die drei Groschen für Heilbehandlung, Verband und Spiritus, der Blutsenkung gar nicht zu gedenken?«
»Ihr habt ihn zur Ader gelassen?«, fragte Markéta erschrocken.
»Aber er hatte sowieso schon viel Blut verloren! - Und dann ist er davongegangen, sagt Ihr?«
Der Medikus nickte und wandte sich zugleich mit einer brüsken Bewegung ab. Markéta blieb noch einen Moment lang stehen, wo sie stand, inmitten des leeren, erschreckend großen Krankensaals. Sie glaubte von Rosert kein Wort, so wenig wie dem Lumpenkerl neben ihm, der sich Unçerek nannte. Dabei hätte sie schwören mögen, dass es einer der drei Gesellen war, die gestern an der Jagd teilgenommen hatten, höchstwahrscheinlich doch dieser Täkie, dachte sie, der den Verletzten mit Mular hierher gebracht hatte.
Im Augenblick aber konnte sie hier nichts weiter tun. Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich um und verließ den Krankensaal. Noch ehe sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, begannen die beiden bereits wieder, sich murmelnd zu unterreden.
Der untere Burghof war von geschäftigem Leben erfüllt. Diener und Mägde liefen umher, aus den Viehställen gegenüber drangen Rufe und lautes Gelächter, vermischt mit Grunzen, Gackern und Quieken. Von der Backstube wehte der Duft frischen Brotes herüber, aber Markéta verspürte keinen Appetit, in ihrem Bauch rumorte noch immer quälende Unruhe.
Eine Weile stand sie neben der Spitalstür und sah zu, wie eine Gruppe junger Mägde Eimer voller Milch vom Kuhstall hinüber ins Butterhaus schleppte. Zwei Bäckerjungen traten aus der Backstube, Hucken voller Fladen auf dem Rücken, die sie in windesschnellem Wettlauf zur oberen Burg emportrugen. Im Winter vor fünf Jahren, dachte Markéta, hab auch ich als Kuchelmaid hier angefangen, und wenn damals nicht Graf Wilhelm das Zeitliche gesegnet hätte, wer weiß, vielleicht wär ich immer noch hier beim Gesinde.
Ihre Gedanken sprangen hin und her, und nur sie selbst stand weiter reglos neben der Tür. D’Alembert hatte ihr erzählt, dass unter den Burghöfen ein Labyrinth von Tunneln verliefe. Von morgens bis abends bewegten sich Ströme von Dienern durch diese Gänge, schleppten Speisen in den Herrschaftstrakt und die leeren Schüsseln zurück, trugen Kübel und Fässer, Wäsche und Gewänder, alles, was ein so riesiger Haushalt brauchte und verbrauchte, in unablässigem Gewoge hin und her.
Markéta stellte sich vor, wie Dutzende oder Hunderte von Dienern unter ihr durch die Tunnel flitzten, und mit einem Mal fühlte sie sich schrecklich allein und überfordert. Wenn Nicodemus nun doch nicht nach Hause gehumpelt war, wie der Medikus behauptet hatte, wenn er stattdessen von Hezilows Häschern in die alchimistischen Gewölbe verschleppt worden war, aus welchen grässlichen Gründen auch immer - was konnte sie schon gegen den Puppenmacher und seine Spießgesellen ausrichten? Und wenn Hezilow den armen Flor sogar oben im bewachten Frauengemach so sehr in Angst und Schrecken versetzen konnte, dass es dem Nabellosen aufs Neue Verstand und Sprache verschlug - was konnte sie schon tun, um Flor zu beschützen oder gar dem Russen das schwarze Handwerk zu legen?
Unter solchen Gedanken hatte sie sich gleichwohl wieder in Bewegung gesetzt, durchs tintenfinstere Durchhaus hinauf zur oberen Burg. Ich könnte Julius bitten, den Russen zur Rede zu stellen, dachte sie, aber nein, er würde höchstens halbherzig gegen Hezilow vorgehen, gerade jetzt, da der Puppenmacher angekündigt hatte, in Bälde Blei - oder Dreck, oder Sonnenstrahlen, was verstand sie schon davon? - in Gold zu verwandeln. Außerdem hatte Julius dem Moment entgegengefiebert, da er endlich mit Messer und Salpeter, mit Stroh und Lumpen darangehen konnte, die erlegte »majestätische Familie« als murmeläugige Bildwerke wiederzubeleben.
Und der Maître? Einen Moment lang schien es ihr möglich, ja wahrscheinlich, dass d’Alembert ihr gegen Hezilow beistehen würde. Aber er ist zu schwach, dachte sie dann, die »Unterwelt« unterliegt nicht seiner Gewalt, es ist eben »Hezilows Hölle«, und einzig Julius könnte den Puppenmacher dort unten in die Schranken verweisen. Außerdem rannte d’Alembert sicher längst wieder treppauf und treppab, um Anordnungen zu erteilen und Unterredungen zu führen, Briefe zu diktieren und Boten zu empfangen; der kleine Nicodemus und auch Flor waren für ihn allenfalls Bauern in einem verwickelten Schachspiel, das ihm unablässige Konzentration und alleräußersten Scharfsinn abverlangte.
Sie erreichte den dritten Burghof und ging mit langsamen Schritten weiter bergan, auf das riesige schwarze Gewölbetor zu. Es war geschlossen und verrammelt, was sie nicht sonderlich überraschte. Drei schwarzbärtige Gesellen standen davor, gegurtet mit Schwertern in langen Scheiden nach Hezilows Manier.
»Ich will mit Täkie sprechen«, verlangte sie und sah den drei Kerlen abwechselnd in die Augen.
»Er steht vor Euch, Madame«, antwortete einer von ihnen bereitwillig und deutete auf seinen Nachbarn; der jedoch schüttelte den Kopf und schob den dritten Kumpanen nach vorn: »Der hier ist Täkie.«