Wieder beugte sie sich hinab in die Treppenhöhle, und diesmal sah sie Bianca ganz deutlich hinter der Wand aus rötlichem Nebeclass="underline" Ihre Lippen bewegten sich, ihre Augen waren weit geöffnet, ihre Hände vollführten beschwörende Gebärden. Zu verstehen war gar nichts, aber ihr schmerzlicher Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel, dass sie Qualen litt.
Wir müssen hinab, dachte sie wieder, Mutter Bianca befreien.
Behutsam trat sie auf die oberste Stufe, und da zog sich der ganze rote Schacht wie erschauernd zusammen. Das Donnern wurde lauter, drängender. Erschrocken zog sie ihren Fuß zurück, sofort schwoll auch der Donnerklang wieder ab, und die Treppe war wie vorher starr und dunkelrot.
Sie trat einen Schritt zurück, versuchte es mit stärkerem Anlauf und drang diesmal bis zur vierten Stufe vor, ehe der ganze Schacht sich wieder erbebend zusammenzog. Schauer überliefen sie, in immer rascheren Wellen, aus dem schimmernden Samt, aus Stufen und Wänden knospten zitternde Fühlpunkte hervor. Eine Muschel, keine Treppe, dachte sie, mit unzähligen winzigen Fühlern, die sie umschmiegten, liebkosten, sie selbst und jenen Jemand, der, so geheimnisvoll mit ihr verbunden, nun neuerlich hinausglitt und mit stärkerem Schwung zurück in die Tiefe stieß.
»Alles hat männliche und weibliche Prinzipien, Geschlecht offenbart sich auf allen Ebenen!«, hörte sie mit heller Stimme deklamieren, untermalt von Donnerschlägen, und da erst dämmerte ihr, dass sie selbst die wunderlichen Worte schrie.
Alles ich, alles wir, dachte sie, in die Muschel tauchend, den Taucher umschlingend, zurückwerfend, wieder hinabsaugend, hinabgesogen, immer schneller, mit immer wilderem Schwung. Welle um Welle durchflutete sie, immer süßere, immer heißere Wogen, dann stieß der Taucher ungestüm wie nie in die Tiefe, und die ganze funkelnd rote Muschel zog sich zusammen, wieder und wieder erschauernd vor Glückseligkeit.
Für einen winzigen Moment war die Nebelwand tatsächlich zerrissen, dahinter kam Mutter Bianca zum Vorschein, den Mund schon geöffnet, um ihr endlich die Botschaft zuzurufen.
Doch da erschallte ein Schrei, und sie fuhr aus ihrem Traum, keuchend und schweißüberströmt.
Schwarze Nacht umgab sie, ein Arm lag auf ihrer Brust, schwer und warm. Julius, dachte sie, abermals erschauernd, doch dann ertastete sie eine schmale Schulter, verworrene Locken und schob ihn hastig von ihrem Leib.
Sie wagte kaum zu atmen, bis die Kerze endlich sein Antlitz beschien: elfisch bleich, die zwiefarbenen Augen verengt zu Schlitzen, der Mund noch geöffnet von seinem Schrei.
Sie beide starrten einander an wie Gespenster, nein, wie Traumbilder, hinübergesprungen in die wache Wirklichkeit.
Die gräfliche Geliebte, dachte Markéta, in den Armen ihres Schicksalsbruders. Beinahe hätte sie laut aufgelacht, ein Gelächter des Entsetzens, das unfehlbar in Schluchzen umgeschlagen wäre; doch in diesem Moment begannen die Glocken der St.-Veit-Kirche feierlich die Stunde zu läuten, und Markéta hielt aufs Neue den Atem an und zählte: drei - sieben -neun - zehn, gefolgt von zwei dünneren Schlägen.
Eben noch Zeit genug, den Schlaf aus den Augen zu krümeln und in die Kleider zu fahren, ehe drunten in »Hezilows Helle« das nächste unterweltliche Spektakel begann.
48
Er fühlte sich so ruhig wie selten in seinem Leben, gespannt wie ein Armbrustbogen und doch ganz gelassen, seiner Sache gewiss. Die Probe würde gelingen, kein Zweifel.
In seiner Phantasie hatte er die Szene schon tausendmal vor sich gesehen, allerdings mit sich selbst anstelle von Hezilow. In diesen Tagträumen waren er und seine Gehilfen, Fabrio und Lenka, Flor und Markéta, der alchimistischen Kunst stets in völliger Nacktheit nachgegangen. Den mystischen Pelikan, sagte sich Julius, trug er ohnehin stets bei sich, wohlgefällig spürte er die kristallene Härte unter seinem Habit.
»Alchymische Wollust«, wie Hezilow derlei nannte, hielt ihn in ihrem Bann, seit er die Goldprobe anberaumt hatte. Wäre Madame Markéta nicht heute Mittag stracks aus der Burg gelaufen, die störrische Schöne wäre ihm nicht davongekommen ohne ernstliche Erprobung des goldenen Tiegels, den sie zwischen ihren Schenkeln verbarg.
Und jetzt, da er all seine Aufmerksamkeit auf Hezilow richten musste, lehnte sie neben ihm an der Säule, so nah, dass ihre Schulter seinen Arm berührte und er mit jedem Atemzug den Geruch ihres Körpers einsog. Alchymische Wollust, dachte er wieder; ich riech’s ja, auch sie giert mit jeder Pore ihres Leibes nach dem Mirakel der Verschmelzung.
Kein Wunder, dass just am heutigen Tag, gelenkt von eifersüchtiger Hellsicht, seine ewige Verlobte eingetroffen war, in Begleitung eines Dutzends dominikanischer Nonnen. Ihr könnt genauso gut gleich wieder abreisen, Johanna, dachte er: Nie werd ich Euch freien, fromme Freifrau, wie beflissen Ihr auch alle Demütigungen duldet - ja gerade darum nicht!
Zu seiner Linken stand, wie immer, soweit er zurückdenken konnte, Maître d’Alembert. Sie alle drei beobachteten den Puppenmacher, der sich am Athanor zu schaffen machte, vor dem zwei seiner Gehilfen knieten und wie besessen den Blasebalg traten. Dabei glühten die »Testikel des roten Leu«, wie der Russe das eherne Doppel-Ei genannt hatte, bereits hell wie zwei Sonnenbälle, und das zwischen ihnen aufragende Rohr knackte vor Hitze.
Markéta hielt den Nabellosen an der Hand, der sich immer wieder hinter der Säule zu verstecken suchte und von Zeit zu Zeit ein Winseln hören ließ. Ansonsten herrschte Stille im Gewölbe, abgesehen vom Fauchen des Blasebalgs, dem Keuchen der beiden Gehilfen, Fondor und Täkie, und dem steten Tropfen herabrinnenden Wassers weiter hinten im Labor.
Auf Tischen und Regalen vor dem Athanor schimmerten goldgelbe und milchig weiße Essenzen in den eigentümlich geformten Gefäßen, deren Anblick Julius’ mystische Ekstase noch weiter steigerte. Reagenzgläser, aus denen gläserne Phalli jeglicher Größenordnung ragten, Glasglocken von der Form trächtiger Weiberbäuche, Kupellen so rund und schwellend wie Mädchenbrüste, und all diese schimmernden Apparate durch Schläuche und Mündungen zu einem endlosen Akt der Zeugung und Empfängnis verbunden.
»Wie Ihr wisst, Euer Herrlichkeit«, ließ sich Hezilow mit pfeifender Stimme vernehmen, »muss sich Athanor vier Hitzegrade erreichen: häjßer als Siedepunkt für Wasser, zwischen diesem und dem Schmelzpunkt für Schwefel, unter dem Schmelzpunkt von Zinn und genau am Schmelzpunkt für Bläj.« Er gab den beiden Gehilfen ein Zeichen, und sie ließen vom Blasebalg ab, die Gesichter unter den wirren Barten glänzend vor Schweiß.
Der Puppenmacher deutete auf den Athanor. »Der alchimistische Ofen«, sagte er, »Euer Exzellenz längst bekannt wie eigener Hosensack; aber will Hezilow auch dem verehrten Maître und Madame Markéta ein paar nitzliche Fingerzäjge geben. - Dir nicht, Rolfenko«, fügte er mit veränderter Stimme und einer wegwerfenden Gebärde in Richtung des Nabellosen hinzu, »kennst das alles ja, seit du so klitzekläjnes Gliehwirmchen warst.« Und er zeigte die gemeinte Spanne mit Daumen und Zeigefinger; Flor wimmerte wieder und verbarg sich hinter der Säule. »Diese Kristallfenster«, fuhr der Russe fort, auf die Luken im oberen Drittel des Doppel-Eis deutend, »ermeeglichen Einblick ins Innere der gliehenden Hoden des Läj; bitte um Verzeihung, Madame.« Er feixte in Markétas Richtung, wieder winselte der Nabellose leise auf.
Auf den Herdstellen standen die drei Dreibeine. Gespannt lauschte Julius den Erläuterungen des Puppenmachers, die er selbst im Schlaf hätte wiederholen können: auf den Dreibeinen die muffelbewehrte Kupelle und das so genannte Ei der Philosophen, ein fußloser Glasballon, überragt vom Pelikan, dem langen, offenen Destillierkolben mit zwei gegenüberliegenden Hähnen, die seitlich ins Ei zurückführten.
»Alchimistische Essenz«, sagte der Russe, »aus der Hezilow bald den Stäjn der Wäjsen, das Sperma mundi transformiert, wird sich in diesem Äj beräjtet. Jede Flissigkeit, die dort durch die Hähne hineinträjfelt, fließt sich durch den Pelikan ins Äj zurick.« Dabei deutete er erst auf den Ballon, dann auf den kristallenen Kolben, der in steilem Winkel über dem Ei des Philosophen aufragte. »Wird sich diese Apparatur aber für die Transformatio von Plumbum in Gold nicht beneetigt, erst für die Erschaffung der Homunkuli.«