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So kann es sich in der Tat zugetragen haben, sagte sich der Maître, zumal sich schon vorher die Anzeichen gemehrt hatten, dass Nicodemus seine Rolle als »falscher Homunkel« zu Kopf gestiegen war. Und doch, und doch ... Aus unerfindlichem Grund schien es auch d’Alembert denkbar, ja wahrscheinlich, dass es mit dem Verschwinden des kleinen Nico eine weniger harmlose Bewandtnis hatte. Auch wenn Julius selbst gewiss nicht in die Affäre verwickelt war, wie der Maître in Gedanken rasch hinzufügte.

D’Alemberts Suite lag in der oberen Burg, auf halbem Weg zwischen den Grafen- und den Frauengemächern, sodass er jederzeit in beide Richtungen antichambrieren und intervenieren konnte. Die Fenster seines Salons gingen auf das rot-schwarze Dächergewirr des Städtchens hinaus, das, vom schimmernden Band der Moldau umschlungen, wie eine gemalte Miniatur in der Sommersonne glänzte. Einen Moment lang blieb er stehen und sah auf die Stadt hinab, dann wandte er sich um und durchmaß abermals den Raum, der ganz und gar in Weiß und Silbertönen eingerichtet war.

Vor der Wand zu seiner Rechten, auf dem glänzend weißen Hirschledersofa, das er eigens aus Prag hatte überführen lassen, saßen die Syrakuser, Fabrio schmollend, Lenka mit weinerlicher Miene. Bei ihrem Anblick begann seine Bauchdecke zu flattern, als ob ein ganzes Nest voll zischelnder Schlangen unterhalb seines Nabels hauste. Schlimm genug, dachte der Maître, dass Fabrios Gegenwart seine innere Ruhe so sehr zu untergraben vermochte. Doch auch Lenka machte ihm Sorgen, seit er sie vor vier Wochen in Hezilows Gewölbe aufgefunden hatte, einen Kummer allerdings, der ihn nicht annähernd so sehr berührte wie der Anblick von Fabrios Brombeermund.

»Nun, Helena«, fragte er in absichtlich strengem Ton, »ist dir endlich eingefallen, was dort unten geschehen ist?«

Sie presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf, dass ihre Locken flogen.

»Dann bleibt ihr beide weiter auf diesem Sofa sitzen«, kommandierte d’Alembert, »bis Lenka sich wieder erinnert, warum ihr Mund mit Blut verschmiert war, als ich sie im Labor des Magisters fand.«

Zwei kohlschwarze Augenpaare glühten den Maître an. D’Alembert sah bedauernd auf Fabrios üppige Lippen, die noch immer zum Schmollmund vorgeschoben waren, dann riss er sich von dem zutiefst verwirrenden Anblick los. Sein Stöckchen in der Rechten wirbelnd, marschierte er an den Zwillingen vorbei bis zur Tür, wo er mit einer eleganten Drehung wendete, um abermals dem Fenster entgegenzueilen. Zurück zu Rudolf!

Ursprünglich hatte der Kaiser bereits am Freitag in Krumau eintreffen wollen, offenbar brannten auch Ihre Majestät darauf, sich mit eigenen Augen von Hezilows Goldmacherkünsten zu überzeugen. Doch gestern zu später Abendstunde hatte ein kaiserlicher Kurier am unteren Burgtor Einlass begehrt, mit einer dringenden Depesche von Katharina da Strada: Ihre allerherrlichste Herrlichkeit, so vermeldete die kaiserliche Mätresse, könnten sich erst am Samstag auf die Reise nach Krumau begeben. Denn nach der Voraussage des Prager Hofastrologen Tycho Brahe würden Ihre Majestät, falls sie bereits am Freitag die Kutsche bestiegen, auf dieser Reise elendig zerschellen.

Mit den Jahren hatte der kaiserliche Aberglaube immer groteskere Ausmaße angenommen, sagte sich d’Alembert. Rudolf wagte keinen Schritt mehr zu gehen, keinen Bissen zu essen und bald wohl auch keinen Atemzug mehr zu tun, ohne dass seine Sterndeuter und Scharlatane das Wagnis geprüft und gebilligt hatten.

Seit Tycho Brahe auch noch prophezeit hatte, der Löwe, der in seinem Käfig im Prager Hofgarten rastlos auf und ab trottete, werde wenige Wochen vor Rudolfs Dahinscheiden verenden, war die wunderliche Majestät dem magischen Mummenschanz vollends erlegen. Jeden Morgen führte der allererste Weg des Kaisers zum Löwenkäfig, wo der mächtigste Mann der Welt sich ängstlich davon überzeugte, dass die Bestie bei guter Gesundheit, ihr Fell glänzend, ihr Appetit unersättlich war. Dabei seien Rudolfs Beine, so die Stradovä weiter, seit einigen Monaten so sehr von der Gicht geschwollen, dass er an manchen Tagen nur unter fortwährendem Ächzen umherhumpeln könne.

Aber was heißt hier Scharlatan und Mummenschanz, berichtigte sich der Maître, indem er vor den Fenstern neuerlich wendete; wenn es Hezilow tatsächlich gelingt, unter den Augen des Kaisers einen ganzen Bottich voller Gold zu erzeugen, dann wird fortan nichts mehr sein, wie es einmal war. Weisheit, was unsereins für schamlose Schurkerei hielt, Wissenschaft, was uns wie auftrumpfender Aberglaube erschien, Wahrheit, was wir als Lug und Trug verdammten. Und die schönen Künste, die edelsten Leidenschaften des Menschengeschlechts? Ihrerseits bloß noch ärmliche Täuschung, kaum der albernsten Narren wert! Denn wer wollte sich fortan noch mit gemalten Schätzen und gemeißelten Figuren abgeben, wenn alchimistische Kunst wirkliches Gold und bald wohl auch lebendige Kreaturen zu erschaffen vermöchte?

Und wie sollte ich noch bezweifeln, dachte der Maître, dass der Magister auch den wundergläubigen Rudolf überzeugen wird, nachdem ich selbst mit eigenen Augen das Gold im Kupfertiegel glitzern sah?

Abermals marschierte er an den Zwillingen vorbei, die starr wie Puppen auf seinem Sofa saßen, die Arme vor der Brust verschränkt. Und doch sträubt sich mein Herz noch immer, sagte sich d’Alembert, meinen eigenen Augen zu trauen: Hat er wirklich Gold aus Plumbum transformiert, Glanz aus Dreck - er, Hezilow, der nichtswürdige Lumpenkerl, das Scheusal aus unseren Alpträumen? Oder hatte der Puppenmacher sie drunten in seinem Gewölbe allesamt verzaubert und ihnen ein Spukgold vorgegaukelt, während sein Tiegel tatsächlich nur Dreck enthielt? Nun, man wird sehen, man wird sehen, sagte sich der Maître, spätestens nächste Woche, wenn die kaiserlichen Alchimisten das angebliche Gold aus Hezilows Retorte prüfen werden.

Der Russe hatte sich zwar ausbedungen, dass kein weiterer Eingeweihter bei der Goldprobe zugegen sein dürfe - »die käjserliche Majestät und ihr herrlicher Sohn, et finito!« -, aber natürlich würden die Prager Alchimisten der rudolfinischen Akademie das vermeintliche Gold augenblicklich untersuchen, mit Säge und Waage, Feuer und Säuren, um den dreisten Nebenbuhler als Scharlatan zu demaskieren, wenn sich ihnen nur die kleinste Gelegenheit bot.

Und die Frage ist nun, dachte der Maître, sollte ich meinerseits auf Hezilow setzen - wie mein Geist mir einzuflüstern trachtet, seit ich das Gold im alchimistischen Tiegel erblickte - oder im Gegenteil trachten, den Puppenmacher des Betrugs zu überführen - wie mein Herz und meine Seele mir zuschreien, seit ich den Lumpenkerl zum ersten Mal sah?

Einzig diese Frage war von Belang, wie der Maître immer klarer erkannte, während er wiederum vor dem mittleren Fenster innehielt, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Eine Frage, die kein Späher, auch keine Katharina da Strada für ihn beantworten konnte, eine Frage, die ihn innerlich zu zerreißen drohte und die doch kaum mehr Aufschub duldete. Falls Hezilow in fünf Tagen vor den Augen des Kaisers triumphierte - würde dann nicht er, Maître d’Alembert, unweigerlich auch seinen allerletzten Einfluss auf den Kaiserbastard verlieren? Und falls der Russe sich bei der so auftrumpfend angekündigten Goldprobe als Betrüger erwiese - hieße das nicht für Rudolf, dass er, Maître d’Alembert, unfähig war, seinen Sohn Julius vor verderblichem Einfluss zu bewahren?

Natürlich konnte er nicht dafür sorgen, dass sich in Hezilows Tiegel am kommenden Samstag tatsächlich Blei in Gold verwandelte - oder Dreck eben Dreck blieb, je nachdem. Aber mit Hilfe von Katharina da Strada konnte er durchaus Meinung und Geneigtheit der kaiserlichen Alchimisten beeinflussen, die anschließend prüfen würden, ob es sich bei der Substanz aus Hezilows Retorte um wahres Gold handelte oder bloß um funkelnden Tand.